„TRANSIT“ von Wagner Moreira. Tanz: Pedro Henrique Ferreira, Leander Veizi, Vincent Wodrich, Fatima Lopez Garcia

„TRANSIT“ von Wagner Moreira. Tanz: Pedro Henrique Ferreira, Leander Veizi, Vincent Wodrich, Fatima Lopez Garcia

Zwischen Ankommen und Fortgehen

Wagner Moreiras neuer, verblüffender Tanzabend „Transit“ in Regensburg

Thematisiert werden Fragen von Zugehörigkeit und die Phasenhaftigkeit des Übergangs, was sich als krude und wunderschön zugleich erweist.

Regensburg, 25/10/2023

Was für eine Stimme, welch ein darstellerischer Aplomb: Die produktionstragende Sensation in Wagner Moreiras neuem Abendfüller „Transit“ für sein zehnköpfiges Regensburger Ballettensemble ist die Sängerin Svitlana Slyvia. Seit vergangener Spielzeit gehört die ukrainische Mezzosopranistin dem Theater der Donaumetropole an – als festes Ensemblemitglied der Sparte Musiktheater. In der aktuellen Tanzproduktion weiß sie sich – leichten Fußes und körperlich überaus einsatzfreudig – inmitten der zeitgenössischen, athletisch-dynamischen und persönlichkeitsstarken Balletttruppe bestens zu behaupten. 

Wie ein Anker in tosender Brandung hält sie bzw. halten ihre mit Inbrunst gesungenen Lieder in englischer, spanischer, hebräischer und arabischer Sprache die Tänzerinnen und Tänzer emotional zusammen. Anfang und Ende der Produktion rahmen die von ihr gesprochenen Worte des im Exil lebenden palästinensischen Dichters Mahmoud Darwish „sei eine Saite, Wasser an meiner Gitarre, / Eroberer kommen und gehen … / Die Erinnerung an mein Spiegelbild entgleitet mir. / Sei meine Erinnerung / sodass ich sehen kann, was ich verloren habe. / Wer bin ich nach diesen Pfaden des Exodus.“ Dazu formt sich – nach dem individuellen Hineinarbeiten in den dunklen Raum – ein Bewegungsmuster des Ensembles, das an Wellen erinnert, an Wasser, das die im Lichtspot über die Bühne schreitende Sängerin gewissermaßen umspült. 

Diese in Worten schwer beschreibbare, allein schon durch ihre körperliche Kinetik faszinierende Aktion, die bisweilen außer Kontrolle zu geraten scheint oder anmutet, als würden die Tänzerinnen und Tänzer von äußeren, auf sie einwirkenden Kräften bewegt, wird am Ende stürmisch bejubelt. Einprägsam bleibt zum Beispiel Momoe Kawamuras langes Solo, bei dem die Tänzerin mit einem Set gesichtsloser Masken agiert. Je nach Stimmung stürzen die Protagonistìnnen immer wieder anders zu Boden, klappen famos elastisch in sich zusammen, geraten ins Rollen oder stecken die Zuschauer durch volkstümelndes, keiner Nation richtig zuordenbares Herumtanzen mit einer Freude am Leben und Lieben an. 

Die Dramaturgie des Abends wird von der Zusammenstellung von Werken des argentinischen Komponisten Osvaldo Golijov bestimmt. Den choreografischen Kreationen verleihen diese ein originelles Grundgerüst, das dem Publikum musikalisch ein überraschend breites, akustisch sehr sinnliches Klangspektrum bietet. Durch diese reiche Palette unterschiedlicher Rhythmen, Dynamiken und Klangfarben für kammermusikalische Sequenzen ebenso wie für jene Wortzeilen, die sich in Svitlana Slyvia intensiver Interpretation zu regelrechten Kurzgeschichten bündeln, wird einerseits Vergangenes heraufbeschworen, andererseits szenisch eher Gegenwärtiges verhandelt. 

Allein in Golijovs „Ayre“ wurde Volksliedgut verschiedenster Kulturen virtuos miteinander verwoben. Jüdische, orientalische und klassische Elemente verschmelzen in seiner Musik – ein Effekt, der sich choreografisch und tänzerisch auch in der bruchlosen Szenenabfolge widerspiegelt – hier in wilden, zackigen Sprüngen, dort in rotierenden Winkelbewegungen. Schafft man es, den Blick von den selten bloß innehaltenden Interpreten auf der Bühne zu lösen, lassen sich die Texte der Gesangsstrophen in deutscher Übersetzung oben am Portal mitlesen und bestimmte inhaltliche Bezüge herstellen. An sich bleibt der Handlungsverlauf jedoch abstrakt. Nur atmosphärisch gibt eine Art Haus mit einer schwarzen Mauer, einer gefängnisgitterartigen Wand und einem verspiegelten Kabinett Hinweise auf ein Innen oder Draußen.

Verängstige, in diesem sich ständig verändernden Raumambiente versprengte Geschöpfe holt die kraftvolle Sängerin durch herzliche Umarmungen fast mütterlich in den Kreis der auf ihrer Wanderschaft verbundenen Gemeinschaft zurück. Berührend ist eine Sequenz, in der Tod und Verlust eine wichtige Rolle zu spielen scheinen. Rabenvogel-Masken kommen in wechselnder Anzahl zum Einsatz. Die Tänzerinnen und Tänzer tragen sie am Kopf oder an ihren Händen. Die Hüften umspielen weite, schwarze Rockschleppen. Ihre Oberkörper sind frei.

Der Wechsel von Kostüm zu Kostüm wird unmerklich vollzogen. Doch im changierenden Licht bemerkt man plötzlich ein neues Glitzern und Strahlen. Einzig Svitlana Slyvia – in mehrfacher Hinsicht Dreh- und Angelpunkt dieser Inszenierung – behält ihre bodenlange schwarze Robe an. So fungiert sie mal als die den gesamten Gefühlshorizont Ankurbelnde, mal als Fels in der emotionalen Brandung oder spielt stumm den Part des reflektierenden Doubles. Der Regensburger Chefchoreograf Wagner Moreira hat in der Künstlerin tatsächlich „den“ famosen Motor für „Transit“ gefunden – ein frappierend kruder und wunderbar gelungener Auftakt in die neue, seine zweite, unter das Motto „Identitäten“ gestellte Spielzeit. Dass der eindrückliche Abend von keiner Pause unterbrochen wird – ein Trend, der sich gerade bei Abendfüllern vielerorts beobachten lässt – passt zum diffusen Plot, der auf ein Mitgehen des Publikums mehr im Unterbewussten baut als auf ein eindeutiges Verstehen der Szenen.

Im Kollektiv, das ein und dasselbe Schicksal teilt, werden in 85 live von insgesamt 12 Musikern begleiteten Minuten immer wieder neue Richtungswechsel eingeschlagen. Man durchquert Türen des Bühnensets und hier und da Tore, die spontan von den Interpreten errichtet werden. Der Weg – endlos auf einer Drehbühne – führt in unterschiedlichste, auch innere Welten. Vereinzelt, in Paaren oder Grüppchen sieht man sich mit Ängsten, der eigenen Identitätssuche konfrontiert und findet dazwischen in heimeligen, malerisch-häuslichen Bildern zueinander. Da sitzen dann Sängerin, Gitarristin und Tänzerinnen gesellig vor einer Hütte auf einer Bank. 

Moreira ist nicht der erste Choreograf, der sich – eben weil es insbesondere am Theater beschäftigte Künstler schon von Berufs wegen meist eine Karriere lang betrifft – thematisch mit der Idee des Aufbruchs und Unterwegsseins beschäftigt. 2009 hat das Bayerische Staatsballett „Zugvögel“ von Jiří Kylián uraufgeführt. Ein Werk, in dem gleichfalls Filmeinspielungen zum Einsatz kamen. Die Inspiration zu seinem Stück und der von Kristopher Kempf findig realisierten Ausstattung kam Moreira – so verrät er im Programmheft – beim Besuch in der Münchner Max-Beckmann-Ausstellung „Departures“. In Videos werden passagenweise Regungen in den Gesichtern der Mitwirkenden auf die raue Hauswandfläche projiziert. 

Schnell könnte das zu einem „to much“ führen. Doch in keinem Moment gerät das Gleichgewicht zwischen den einzelnen Komponenten aus der Balance. „Transit“ entfaltet seine Wirkung unter der musikalischen Leitung von Tom Woods und großer künstlerischer Hingabe aller durch ein gerüttelt Maß an Originalität – angeführt von der Sängerin Svitlana Slyvia, die für ihre Auftritte gern furios Fensterläden aufstößt, am Boden liegend singt oder – während sie hinreißend dahinträllert – hurtig das Gestänge des nach und nach mehrfach von allen Seiten bespielten Gebäudekomplexes hinauf- und hinunterklettert. Erstaunlich, was sich das Regensburger Team unter Tanzchef Wagner Moreira offenbar vorgenommen hat – wovon „Transit“ mit Verblüffung zeugt. Auf jeden Fall ein veritables Versprechen für die Zukunft dieser Kompanie, das neugierig macht.

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