Menschen = Heimat
Re-Staging von Ceren Orans „Heimat...los!“
Es ist ein durchaus ungewöhnlicher Vorgang, wenn eine Organisation zu einem Jubiläum keine Party feiert, sondern es zum Anlass nimmt, ein drängendes strukturelles Problem in der Kulturarbeit tiefgehend zu beleuchten. Im Falle des Symposiums „Tanz und Elternschaft – Strategien für faire Care-Arbeit in der Kultur“, organisiert vom Tanzbüro München (Leitung: Simone Schulte-Aladağ & Tina Mess) anlässlich seines zehnjährigen Bestehens, kann man nur Eines sagen: Alles richtig gemacht, denn die zweitägige Gesprächs- und Veranstaltungsreihe geriet zum vollen Erfolg.
Die Räume der Labor Ateliers im Münchner Kreativquartier durchzog an diesem Freitag eine ganz besondere Atmosphäre – Solidarität, Empowerment, vor allem aber ein immenser Tatendrang waren zu spüren. Am Vorabend war das Symposium bereits mit einem Impulsvortrag von Daniela Rippl (Kulturreferat München) und einer Performance der Choreografin Christina D’Alberto sowie einer Kurzvortragsrunde von Münchner Tanzschaffenden zu unterschiedlichsten Perspektiven auf „Tanz und Elternschaft“ eröffnet worden. Der intensive zweite Tag galt der Vertiefung, dem internationalen Austausch, der Vorstellung von Best Practice-Beispielen und der Erarbeitung von Handlungsempfehlungen.
Den Anfang machten Choreografin Emi Myoshi und Tänzerin Anna Kempin des Freiburger Shibui Kollektivs. Beide skizzierten Erfahrungen wie Kündigung am Stadttheater oder Perspektivlosigkeit wegen ihrer Schwangerschaft. Die im Tanz körperlichen Herausforderungen und Leistungsansprüche, die Mütter neben all den strukturellen Hürden meistern müssen, wurden hier wie in allen weiteren Gesprächsrunden besonders deutlich. Im von Myoshi gegründeten Shubui Kollektiv, das im Übrigen Freiburgs erste institutionell geförderte freie Tanzkompanie ist, fanden beide eine Heimat, die ihre künstlerischen und privaten Bedürfnisse miteinander vereinte. Zum Beispiel berichtete Anna Kempin davon, dass Kursteilnehmer*innen bei ihren Vermittlungsangeboten in der Care-Arbeit mithelfen.
Unterstützt wurden beide von Schauspielerin Emilia de Fries und Regisseurin Elisa Müller, die einige Gesprächsrunden mit den „Handlungsempfehlungen für elterngerechtes Produzieren“ des NRW Landesbüro Freie Darstellende Künste ergänzten. Gemeinsam forderten sie mehr multifunktionale Räume für Kulturarbeit und Förderung von Mehrkosten für die Care-Arbeit anstatt dem häufig auftretenden „Care-Shame“. Elisa Müller propagierte gemeinsame Check-ins zu Beginn jeder Probe, um eine gesunde Basis für die intensive künstlerische Arbeit zu legen.
Lösungsmöglichkeiten für das Problem, dass insbesondere Residenzen und Reisen auf Festivals für Tanzschaffende mit Kindern ein Problem darstellen, wurden im Gespräch zur Fördersituation aufgeworfen, in dem Nicole Fiedler und Jana Grünewald vom Dachverband Tanz Deutschland zwei (inzwischen leider abgelaufene bzw. auslaufende) Förderprogramme vorstellten. Distanz Solo gab Soloselbständigen während der Corona-Pandemie die Möglichkeit, in zeitlich flexiblem Rahmen weiterzuarbeiten und bei Bedarf (z. B. Schwangerschaft) diese Arbeit auch zu pausieren. Für das Programm Kreativ-Transfer, das Tanzschaffenden die Reisekosten für Festivalbesuche und Netzwerkarbeit erstattete, konnten auch die Kosten für eine Begleitperson für die Care-Arbeit beantragt werden. Für zukünftige Förderungen schlugen Fiedler und Grünewald u. a. eine „Wiedereinstiegsförderung“ nach einer Babypause vor.
In den Vorträgen von Marika Smreková (Tschechien), Anna Ehnold-Danailov und Angela Pickard (beide Großbritannien) waren insbesondere die in Langzeitstudien generierten Zahlen eindrücklich. So verzeichne Elternschaft im Schnitt Verdiensteinbußen von 7.000£ (ca. 8.000€) im Jahr. 88% der Befragten gaben an, bereits eine Jobmöglichkeit wegen ihrer elterlichen Pflichten abgelehnt zu haben, während ganze 49% ihre Tätigkeit komplett aufgaben. Die vorgestellten Beispiele vom Studio ALTA in Prag und von PiPA zeigten: Wenn die Karrieren von Eltern im Tanz unterstützt werden, fördert und erhält das Talente, erhöht die Gleichstellung der Geschlechter und die Diversität.
Dass nämlich die Gleichstellung der Geschlechter selbst in einer progressiven Sparte wie dem Tanz noch schiere Illusion ist, zeigte sich leider auch bei den Teilnehmenden des Symposiums. Ganze drei männlich gelesene Personen konnte man am Freitag erspähen, darunter nur einen Vater. Die Hauptlast tragen also nach wie vor die Mütter, das Thema Care-Arbeit ist in vielen Punkten mit Mutterschaft gleichzusetzen, was auch in vielen der Gesprächsrunden betont wurde. Genau deshalb erwies sich das Symposium aber als so wichtig. Die Teilnehmenden, viele von ihnen auch aus anderen Bundesländern, brachten sich intensiv ein, teilten ihre Erfahrungen, konnten sich in den Erzählungen anderer wiederfinden und bestärken. Und es wurde mehr als deutlich: dieses Symposium ist nur ein Anfang.
Viele Ideen kursierten im Abschluss-Panel zwischen Choreografin Jasmine Ellis, Nicole Fiedler, Daniela Rippl, Stadträtin Julia Schmitt-Thiel (SPD) und Stadtrat David Süß (Grüne). Finanzielle Unterstützungen durch Gleichstellungsbeauftragte und Ressorts außerhalb des Kultursektors, ein neues Fördermodell für München, der im Bund diskutierte Mutterschutz für Selbständige und in Festivals integrierte Kinderbetreuung sind da nur einige Beispiele. Bleibt zu hoffen, dass den Willensbekundungen in prekären Zeiten wie diesen auch Taten folgen.
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