Tanz vor dem Abgrund
„Viva La Vida“ von Enrique Gasa Valgas im Deutschen Theater München
Kein Wunder, dass der Roman „Der große Gatsby“ von F. Scott Fitzgerald aus dem 1925 jetzt –fast 100 Jahre später – als Tanztheater im Deutschen Theater in München aufgeführt wird und den Menschen aus der Seele spricht. Passt die Thematik rund um Genusssucht, Oberflächlichkeit, Vergänglichkeit und Wirtschaftskrise doch hervorragend auch in unsere Zeit – auch wenn der „Great Gatsby“ in Long Island, vor einer anderen Kulisse spielt. Dass die Handlung hier nach München in das „Deutsche Theater“ verlegt wird, tut dem Stück keinen Abbruch. Auch hier glitzert und ‚glamourt‘ es. Da wird der rote Teppich ausgerollt, man posiert sich und ist eigentlich schon Teil des Geschehens – der Bühne oder der Realität?
Genau diese Frage nach mehr Schein als Sein stellt sich bereits, bevor der eigentliche Theatervorhang sich hebt. Fitzgerald bringt mit seinem gleichnamigen Roman Licht ins Dunkel der Ausschweifungen der 1920er Jahre, der Genusssucht und übt mit diesem Gesellschaftsporträt durch seinen Plot scharfe Kritik an dem oberflächlichen Lebensstil des Zeit(un)geistes der Zwischenkriegszeit, wie das folgende Romanzitat illustriert, das damit genau die Vorlage zur Kulisse dieser Tanzproduktion bieten könnte, vielleicht auch tatsächlich bietet. „Die Sommernächte hindurch drang Musik aus dem Haus meines Nachbarn [Nick Carraway]. In seinen [Gatsbys] blauen Gärten schwirrten Männer und Mädchen wie Motten umher zwischen Geflüster, Champagner und Sternen.“
Ist man also Gast auf einer der Gatsby-Partys? Auf jeden Fall: Willkommen in der schillernden, mondänen Halbwelt der Reichen und Schönen, vor allem in der Welt der Dekadenz der Roaring Twenties mit Evergreens, Songs von Duke Ellington und Bing Crosby des Jazz, Blues und Charleston. Passend zum überschaubaren Horizont von ‚Reich und Schön‘, damit einhergehend deren emotionaler Leere ist die sparsame Dekoration dieser Produktion im Deutschen Theater mit nur einer überdimensionierten weißen Halbweltcouch und – darauf liegend – gelangweilten Damen, die diese Szene auf diesem Sofa hervorragend in Bewegung umsetzen. Stichwort Bewegung: Naheliegend (!) also, Fitzgeralds Roman-Klassiker in die Form des Tanztheaters zu übersetzen.
Enrique Gasa Valga, ehemaliger Tänzer beim Kubanischen Nationalballett und Leiter der Tanzcompany des Tiroler Landestheaters, hat eine mitreißende Show mit passenden Lichteffekten kreiert und auf die Beine gestellt, die nur so gut sein kann wie ihre Darsteller*innen. Genau darauf kann sich der spanische Choreograf verlassen: Sein Ensemble, die ‚Limonada Dance Company‘ ist in der Lage, Ballett, Stepptanz, Akrobatik und Jazz sowie Charleston in atemberaubender Geschwindigkeit, Wechsel und Präzision auf die Bühne zu bringen – analog zum pulsierenden Leben der 1920er Jahre, zu Gatsbys innerlicher Unruhe, seiner unaufhörlichen Jagd nach gesellschaftlicher Anerkennung, um Daisy zu beeindrucken. Sofort drängt sich die Frage auf, ob sich der ‚American Dream‘ vom Tellerwäscher zum Millionär hier erfüllt. Hervorragend verkörpert Mark Biocca den coolen Gatsby, der im Stepptanz genauso sattelfest ist wie im Gesang. Stimmlich herausragend ist Greta Marcolongo, darstellerisch und tänzerisch Camilla Danesi als die kokette Daisy und Addiso Ector in der Rolle von Nick Carraway. Chapeau an Musiker*innen, Ensemble und Solist*innen, die im besten Sinne harmonierten.
Enrique Gasa Valga, das Ensemble und die Musiker, die vom Publikum frenetisch gefeiert werden, kommen nicht um eine Zugabe herum. Wenn das nicht ein Zeichen dafür ist, die Vergänglichkeit des fulminanten Abends ein wenig hinauszuzögern, was sonst?
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