„Every Minute Motherland“ von Maciej Kuźmiński
„Every Minute Motherland“ von Maciej Kuźmiński

Tanzen mit blutender Kriegswunde

„Every Minute Motherland“ von Maciej Kuźmiński im Rahmen des DANCE Festivals München

Der polnische Tänzer und Choreograf Maciej Kuźmiński und seine temporäre polnisch-ukrainische Tanzkompanie beschreiben mit ihren Körpern, was der Krieg in der Ukraine, Ohnmacht, Schmerz und Trauer bedeuten. Gleichzeitig zeigen sie uns tapfer eine unerschöpfliche Hoffnung, Stärke und Resilienz.

München, 19/05/2023
Von Luka Biechele

Für den mehrfach ausgezeichneten Choreografen markiert der Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine am 24. Februar 2022 einen markanten Einschnitt in sein Leben. Deshalb sind fortan die Themen Krieg und Flucht zentral in seinem Schaffen. Obwohl er selbst polnisch ist, sind seine Gedanken immer bei den Menschen in der Ukraine. Die Kreation von „Every Minute Motherland“ war für ihn eine Notwendigkeit, um mit dem Schmerz, vor allem mit dem Schmerz der ukrainischen Tänzer*innen, umzugehen.

„Ich kann nie wieder tanzen“

In Zusammenarbeit mit dem Dramaturgen Paul Bargetto und der ebenfalls aus der Ukraine geflüchteten Tanzjournalistin Polina Bulat, die ukrainische Tänzer*innen bei der Flucht aus ihrem Heimatland in das Nachbarland Polen unterstützte, entstand das Stück. Neben der polnischen Besetzung der Maciej Kuźmiński Company wurden Tänzer*innen aus der Ukraine gecastet, um das Ensemble zu komplettieren. Das Vortanzen war sehr emotional, berichten die Künstler*innen im Interview und im Dokumentarfilm „Fragments of Resilience“ von Anna Semenova, welcher den Entstehungsprozess des Stücks zeigt. Die Tänzer*innen flüchteten aus ihrem vom Krieg zerrissenen Heimatland Ukraine und ließen bei der Audition zum ersten Mal ihre Körper sprechen. Der menschliche Körper speichert Erinnerungen, alle Emotionen und somit auch den Schmerz. Es wurde viel geweint bei den Proben und eine Tänzerin sagte: „Ich kann nie wieder tanzen“. Dennoch stellte sich das Ensemble mutig den Erinnerungen an den Krieg, der Sorge um zurückgebliebene Freunde und Familie, der Trauer, dem Zorn und der Hilflosigkeit. Ihre Körper erzählen ihre eigene Geschichte und gleichzeitig die Geschichte tausender Menschen mit Fluchterfahrung.

„Der Krieg ist im Studio“

Die Proben fanden im Sommer 2022 zunächst in Kuźmińskis Studio in Łodz statt, anschließend im kleinen polnischen Dorf Dabrova. Abgeschottet von der Außenwelt und umgeben vom Frieden der Natur durchlebten die Künstler*innen den Probenprozess im Kollektiv als heilsam. Die Stille und Schönheit der Landschaft im polnischen Norden stellten einen Ausgleich zum intensiven, herausfordernden und emotionalen Arbeiten im Studio dar. Der Choreograf sagte im Interview, dass „der Krieg im Studio wartete“. Die Unruhe, die Wut und das Getriebensein waren ein ständiger Begleiter beim Entstehungsprozess des Stücks. Nach und zwischen den Proben wurden die Handys gecheckt, um Neuigkeiten aus dem Heimatland zu erfahren. Sind die Freunde und Familie unversehrt? Breitet sich die Zerstörung weiter aus? Die Sorge schwebte wie eine Gewitterwolke über dem Ensemble.
Jedoch konnten die Tänzer*innen unmittelbar im Studio ihre Emotionen transformieren, den tiefen Schmerz in berührende Tanzkunst verwandeln und ein Denkmal der Resilienz erschaffen. Es ist das erste Mal, dass Kuźmiński gleichzeitig Choreograf und Tänzer in seinem Stück ist. Er erklärt, dass er eine andere Erfahrung mit in das Stück bringt, die er mit der polnischen Hälfte des Ensembles teilt. „Mein Zuhause ist nicht zerbombt“, so Kuźmiński, jedoch teile er den Schmerz mit den Ukrainer*innen. „Es gibt so viele Gemeinsamkeiten zwischen meinem Heimatland Polen und der Ukraine“, so der Choreograf. Es gäbe für ihn und sein Ensemble keine Alternative als zu tanzen, egal, was in der Welt um sie herum geschieht.

Körper sprechen auch ohne Licht und Musik

Die Performance beginnt mit Stille und dem Fehlen von Licht. Erst im späteren Verlauf des Stücks gibt es ‚Lichtblicke‘, die metaphorisch für die lichten Momente im Exil begriffen werden können. Momente der Hoffnung und Momente des Zusammenhalts. Die sieben Tänzer*innen Maciej Kuźmiński, Daria Koval, Anna Myloslavska, Monika Witkowska, Vitaliia Vaskiv, Szymon Tur und Anastasia Ivanova treten in reduzierten, puristischen Kostümen auf. In gedeckten Farben gehalten sind die Kostüme so zurückgenommen, dass nur der rohe Ausdruck der Körper zurückbleibt, auf welchem der Fokus der Choreografie liegt. Der Wechsel zwischen Fallen, mühsamem Aufrichten und erneutem Fallen erzählt von der Kraft, die es kostet, jeden Tag aufs Neue weiterzumachen, sich selbst aus seelischen Abgründen zurückzuholen und erneut aufzurichten.
In tänzerischer Exzellenz geben sich die Tänzer*innen der Erfahrung hin und nehmen das Publikum mit in ihr innerstes Erleben. Auch ohne Worte werden Gefühle wie Ohnmacht oder Schmerz transportiert. Zu sehen sind sich wiederholende, schmerzvolle Bewegungen, wiederkehrendes Niederfallen auf sensible Gelenke oder Hände, die auf Körper schlagen. Es gibt auch Augenblicke der Verbundenheit, des Zusammenhalts und des Sich-Gegenseitig-Aufrichtens nach dem Fall.
Das Tanzstück wird zum Sinnbild für die Stärke, Wärme und Notwendigkeit der Gemeinschaft. Ohne diese wären die Traumata eines Krieges sicher nicht zu bewältigen.

Ein Höhepunkt der Kraft und des Lichts

Die Darstellenden sind zunächst nur im Halbdunkel der Bühne des schwere reiter zu erkennen, während sie Bände sprechen von den Erfahrungen im Exil, von Furcht, Wut, Sorge und Unruhe. Reduzierte Klaviermusik und Phasen der absoluten Stille sind präsent, sodass der Fokus kontinuierlich auf der Körpersprache liegt. Der Höhepunkt der absoluten Ausweglosigkeit der Tänzer*innen wird auf der Bühne subtil erzeugt durch fahles Licht, Regungslosigkeit und Erschöpfung der auf der Bühne liegenden Körper und die Aufnahme des Bellens eines Hundes in der Ferne. Der Hund, so stellt sich später im Gespräch mit dem Ensemble heraus, begleitete die Gruppe in ihrem Probenprozess in Dabrova. Ein Wendepunkt tritt ein, als das Ensemble komplett auf die Bühne tritt, und die Tänzer*innen durch gemeinsame, pulsierende und markante Bewegungen ihre geballte Kraft zeigen. Unterstützt wird diese unerschütterliche Stärke durch Musik von den imposanten Stimmen der ukrainischen Musikgruppe DakhaBrakha. Es entsteht eine Fusion aus einem ekstatischen Tanzmoment des Ensembles und ukrainischer Identität. Dieser Bühnenmoment ist ein klares Statement: Wir sind stark. Wir machen weiter. Wir kämpfen. Wir tragen Hoffnung in uns.
Nach dieser Katharsis gibt es sogar Momente der Wärme und Hoffnung im Stück. Tänzer*innen tanzen wie in Trance oder einem Ritual im Kreis und bilden mit ihren zarten, weichen Bewegungen einen Kontrast zur vorhergehenden brutalen Bewegungssprache.

Hoffnung ist alles, was bleibt

Der Krieg verschwindet unmerklich aus den Medien, jedoch ist er immer noch hier, jeden Tag. Das erzählen uns die Tänzer*innen in „Every Minute Motherland“ sobald sie die Bühne betreten.
Es gibt eine ukrainische Tradition, für den Frühling zu singen, damit er schneller in die Lande zieht, denn die ukrainischen Winter sind sehr lang. Eines dieser Lieder ist „Vesna“ von DakhaBrakha. Die Hoffnung stirbt zuletzt, konstatiert auch Kuźmińskis Choreografie. Auf dass auch nach diesem ukrainischen Winter ein Frühling folgt!

Dieser Text entstand im Rahmen einer Kooperation mit Studierenden des Instituts für Theaterwissenschaft an der LMU unter der Leitung von Anna Beke.

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