„Still Not Still“ von Ligia Lewis
„Still Not Still“ von Ligia Lewis

Alptraumpoesie

Ligia Lewis mit ihrer Tanzperformance „Still Not Still“ zu Gast in der Münchner Muffathalle

Einen Mix aus Kälte und charmanter Wucht strahlt die Choreografin Ligia Lewis als ihre eigene Interpretin aus. Die in der Dominikanischen Republik geborene und in den USA aufgewachsene Künstlerin tourt derzeit international mit ihrer eineinhalbstündigen Tanzperformance „Still not Still“, die im April 2021 in Berlin Premiere hatte.

München, 13/04/2023
Das Stück für ihre divers aufgestellte Truppe – eine Art choreografisches Lamento – umfasst mehrere Bilder. Jedes davon wurde in einem Set aus teils mobilen Sperrholzwänden, einer großen Schräge, einem Kasten und zwei fahrbaren Scheinwerferständern akribisch genau inszeniert. Nichts bei dem aufwendigen Bühnenarrangement wird dem Zufall überlassen.
Thematisch werden Ausgrenzung und westlich geprägte Machtstrukturen angeprangert und immer wieder das Verurteilen von Menschen aufgrund ihres Aussehens oder ihrer Andersartigkeit demonstriert – durch Tänzer, die sich wie misshandelte Gefangene in die hölzernen Steller hängen. Zugleich scheint das Feiern und die Verbundenheit untereinander als Kraftquelle nicht-weißer oder queerer Menschen zelebriert werden zu sollen.
Im Mittelpunkt steht eine schillernde Gruppe ungleicher, emotional aufgewühlter Menschen. Jeder von ihnen wirkt wie ein Schmetterling am Abgrund – sich einerseits selbst genug und andererseits auf der Suche nach Anerkennung und Liebe. In seiner Gesamtheit bleibt das durchaus kraftvolle Stück allerdings zu vage.
Corey-Scott Gilbert (ein formidabler Tänzer, den man aus Arbeiten von Richard Siegal kennt) betritt als erster die Bühne. Seine Hand fährt kokett durch die übergestülpten nackenlangen Haare. Er angelt sich ein Mikrofon und lässt es luftknirschend am Kabel baumeln. Wenig später schleift er es über den Boden. Je weiter sein Solo fortschreitet, desto mehr selbsterzeugte Klänge – beispielsweise durch Beklopfen seiner Zähne – bindet Gilbert ein.
Andere hinzukommende Tänzer schlagen sich auf den Körper, prusten, stolpern durch den Raum oder treten geräuschvoll auf. So entwickelt sich im ersten noch musiklosen Teil nach und nach eine rein selbsterzeugte rhythmische Klangkulisse – parallel zu einem Szenario aus Bewegungsabläufen, Posen, kurz eingefrorenen Tableaus und Momenten von (Selbst-)Quälereien.
Lewis in der Rolle eines Vamps stößt als fünfte Figur hinzu. Sie agiert anfangs forsch und gibt sich eher distanziert. Doch im Schlussteil – nun ohne tiefschwarze Glatthaarperücke und langärmelige rote Party-Lackjacke – rückt sie dem Publikum in der ersten Reihe ziemlich eindrücklich auf die Pelle.
Die große Fiesta mit Elementen aus Folk und Cowboy-Western, mit Armen, die wie Lassos umherschwingen, Schüssen aus Nebelpistolen und ausgelassenen Protagonisten, die wild eine geneigte Plattform hinunterrutschen, ist vorbei. Rote Lichter flackern im aufsteigenden Smog, und in einem Kugelhagel-Lichteffekt stürzt ein Interpret nach dem anderen wie tot zu Boden.
Das Elektrosound-Brummen verstummt. Man vernimmt ein ins Mikrofon gehauchtes Ausatmen. Eine Stimme raunt: „It wasn’t supposed to be like this“. Es wird gestöhnt und gejammert. Der Schein eines wandernden Lichts lässt das Ausmaß eines fiktiven gewaltigen Gemetzels sichtbar werden: im Kontext der Inszenierung eine irgendwie aus der Luft gegriffene Horrorvision voller Opfer. Oder sind darunter auch Täter?
Lewis zieht sich die falsche Haarpracht vom Kopf, neigt ihren Oberkörper leicht nach vorne und schnaubt wie ein Pferd: „Come on“. Seitlich von ihr löst sich vor einer nun weit vorgerückten Wand eine zweite, zum Hengst mutierte Gestalt aus dem Dunkel. Vom Band surren Gitarren dazu.
Wie sich plötzlich die gesamte Atmosphäre verändert und die zuvor realistisch fast schon überstrapazierte Szenerie total in etwas Neues umkippt, ist handwerklich gut gemacht. Beide Tänzer sind anders gekleidet und spielen in Haltung, Ausdruck und Anmut eine gänzliche andere, wesentlich animalischere Facette von Körperlichkeit aus, die es erlaubt, so etwas wie Anklänge an eine versklavte Vergangenheit aufblitzen zu sehen.
Hier den Schlusspunkt zu setzten wäre dramaturgisch klug gewesen. Ligia Lewis, die das Publikum wohl bewusst einer in die Länge gezogenen Zeitlichkeit aussetzen will, hat an ihre Choreografie jedoch eine weitere, sich zeitlupenhaft auf die nur mehr schummrig beleuchtete schräge Bühnenfläche im Hintergrund verlagernde Passage drangehängt: ein Sich-Verklumpen und Umkreisen, ein Rutschen, Gleiten und Rotieren kaum mehr bekleideter Leiber, die dann einer nach dem anderen – bis auf einen – verschwinden. Das hat zwar Schaueffekt, bringt aber keinen weiteren Erkenntnisgewinn.
Wenn die sieben Performer*innen dann beim dritten Durchgang einer hyperdramatischen Spielsequenz mit quasi Erwürgten und Toten dazu übergehen, zusätzlich zu beschreiben bzw. zu kommentieren, was sie wie und warum gerade tun, wirkt das erst einmal lustig. Den impulsiven Aktionen und Stürzen wird aber jegliche zuvor noch offene Deutungsmöglichkeit geraubt.
Einen wirklich ergreifenden inhaltlichen Höhepunkt hat die Aufführung immerhin kurz danach zu verzeichnen. All diese Verletzten und Frustrierten rotten sich zusammen und wehklagen bettelnd um die Wette: „Hilfe, help, please, help … just me!“ Indem Lewis zahlreiche choreografierte Happenings wiederholt aufeinander folgen lässt, gelingt es ihr, nach und nach einen Plot zu entwickeln, der das Publikum immer unausweichlicher auf die Fährte dessen führt, was hier entweder recht individuell oder aber kollektiv-intuitiv auszudrücken versucht wird.
Das Gros der Anwesenden bei der ersten von zwei Aufführungen in der Münchner Muffathalle Ende März wurde vor allem durch die tollen künstlerischen Einzeldarbietungen von Boglárka Börcsök, Darius Dolatyari-Dolatdoust, Corey-Scott Gilbert, Cassie Augusta Jørgensen, Justin Kennedy, Ligia Lewis und Damian Rebgetz überzeugt. Die Tatsache, dass hinten im Saal viele Plätze unbesetzt geblieben waren, machten sie an einer Stelle, an der die Zuschauer durch direkte Ansprache enger eingebunden wurden, – ganz im Sinn des Stücks – geschickt zu einer demonstrativen Anklage. Ein volleres Haus hätten sie dennoch verdient.

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