Die Zeit neu entdeckt

Alfonso Fernández Sánchez „Tell me“-Tanzserie. „Tell me“ 4 als Videostream aus der Vogelperspektive.

Zwei Tänzer. Ein Event, zwei analog stattfindende Versionen aus denen zwei Gemälde auf dem Tanzboden entstehen.

München, 12/06/2021


Mit dem Projekt „Tell me“, einer 10teiligen Serie der Tanzreihe des Münchener Gasteigs „Gasteig moves“, setzt sich der spanische Tänzer und Choreograf Alfonso Fernández Sánchez dafür ein, die Kultur aus ihrem (Corona)-Dornröschenschlaf zu holen. Wenngleich „Tell me“ 4 (noch) als Videostream dem Publikum präsentiert wurde und wird, träumt Sánchez davon, sein Werk, ein „gesellschaftlicher Mikrokosmos“, eines Tages auch auf die Bühne des Gasteigs anstatt als livestream ins heimische Wohnzimmer zu bringen. Geplant ist der 5. Teil von „Tell me“ „Zusammenbauen, zerlegen, erneut zusammenbauen“ als digitale und kostenfreie Veranstaltung im Gasteig am 18. Juni.

Unter der Überschrift ein Thema - zwei Tänzer*innen lässt sich die Idee dieses Projektes zusammenfassen. Zu ein und derselben Musik treten gleichzeitig zwei Tänzer*innen auf, um dem Betrachter die verschiedenen Sichtweisen eines Themas/Sujets aufzuzeigen. Dabei legt der Choreograf Wert auf die Einmaligkeit in seinen „Tell me“-Tanzkapiteln: Gelebte und erlebte Improvisation, Spontaneität, Wahrhaftigkeit und damit das Unverfälschte sind die tragenden Säulen, durch die das Werk nicht nur an Ausdruckskraft, sondern auch im wahrsten Sinne Wendigkeit gewinnt. Meinungsvielfalt als Sánchez künstlerisch-gesellschaftliche Botschaft zu den verschiedenen Themen dieser Tanztheaterreihe werden geradezu herausfordert.

Bereits ausgestrahlt (von insgesamt 10 Teilen) wurden von der Poesie-/Musik-und Tanzserie „Tell me“ das Kapitel 1 mit dem Thema Identität und um die Farben Blau und Pink, das Kapitel 2 ist mit „Liebe“ überschrieben, das 3. Kapitel lautet „Die Macht des Wortes“. Beleuchtet - auch im eigentlichen Sinne - wird, wie das Wort die Persönlichkeit prägt und die Rolle des Lesenden einzuordnen ist.

Zuletzt hat sich der spanische Tänzer und Choreograf mit dem Phänomen „Zeit“ auseinandergesetzt und ist dabei auf Salvador Dáli gestoßen, dessen Kunst Sánchez inspiriert. Für ihn steht im 4. Kapitel von „Tell me“ Salvador Dalís surrealistisches Gemälde „Die Beständigkeit der Erinnerung“ aus dem Jahr 1931 Pate, das auch als „Die zerrinnende Zeit“ oder „Die weiche Uhr“ bekannt ist. Die Gegensätze hart und weich oder das Schroffe und Fließende des Gemäldes korrespondieren mit Sánchez Choreografie, in der er in einer Tanz-Collage zweimal parallel auftritt und damit gleich zwei tänzerische Interpretationen zum Thema präsentiert. Trotz der objektiven Zeitmessung durch die Uhr wird die Zeit selbst subjektiv wahrgenommen bei Dalí wie bei Sánchez. Auch in der Musik in ihrem Kontrastreichtum, spiegelt sich dieses Phänomen der Subjektivität wider: Dem harten Staccato-U(h)r-Motiv stehen fließende, assoziationsreiche Klänge gegenüber.

Ebenfalls in der Komposition findet sich die im Gemäldetitel erwähnte Beständigkeit wieder - die „der Erinnerung“: Das Ticken der Uhr oder das des Metronoms zu Beginn und am Ende des Kapitels bildet den zeitlichen (Endlos)Rahmen. Dazwischen verteilen die beiden Tänzer zu fließender, klangfarbenreicher Musik auf hellem Untergrund schwarze Farbe und lassen ein Bodengemälde entstehen.

Ins Auge sticht die karge, minimalistisch fast provokative Bühnenausstattung, die mit dem Wohnzimmersessel so etwas wie heimische Wohlfühlatmosphäre vortäuscht und damit auch auf die dramatischen Lage von Kunst und Kultur in Zeiten von Corona aufmerksam macht.

So erlebt der Betrachter die Choreografie aus der Vogelperspektive mit zwei gleichzeitig stattfindenden jedoch unterschiedlichen Interpretationen - ganz im Sinne einer subjektiven Wahrnehmung von Zeit und Raum. Die Bühne besteht aus zwei aneinandergrenzenden Quadraten, jeweils mit einem Sessel. Der Tänzer des einen Quadrats ist schwarz, der des zweiten Quadrats ist hellbraun gekleidet.

Die zunächst kreisenden Bewegungen am Boden gewinnen - wie das Auftragen der Farbe - mehr und mehr an Raum. Schließlich vollenden die Tänzer ihre beiden Gemälde - jeweils mit der Aufschrift „Tell me“. Die bewegten und bewegenden Bilder haben ihre Wirkung nicht verfehlt: Die Vergänglichkeit und die Angst davor ist unverkennbar: Mit der Idee, die Bewegungen in Zeitlupe festzuhalten, um die Zeit förmlich aufzuhalten, ist Sánchez ein schlichter wie kongenialer Glücksgriff gelungen, diesen Aspekt der Langsamkeit, d.h. der Geschwindigkeit der Bewegungen entgegenzuwirken eindringlich vor Augen zu führen. Im Gegensatz dazu, allerdings unter umgekehrtem Vorzeichen, steht Sten Nadolnys Roman „Die Entdeckung der Langsamkeit“ mit der positiven Sichtweise, der Entschleunigung. Entscheidend gerade bei „Tell me“ ist also das Tempo, in dem die Bewegungen hier ausgeführt werden. Das Thema Zeit oder allgemein die Vergänglichkeit setzt der Surrealist Dalí gleich mit dem Zerfließen eines Camemberts, der den Künstler zu diesem Gemälde inspiriert haben soll. Hier - wie auch in der Choreografie zeigt sich einmal mehr, wie trotz objektiver Zeitmessung Zeit subjektiv wahrgenommen wird.

Bemerkenswert ist Sánchez Idee, die Präsentation des 4. Kapitels nicht mit der Fertigstellung der beiden Gemälde enden zu lassen, sondern mit der Rückkehr zum Sessel, dem Zusammenrollen und dem Verpacken der beiden Gemälde. Verpackt und bewahrt werden die Zeit (auch die Kunst?) und die Erinnerung - „Die Beständigkeit der Erinnerung“ (Dalí). So schließt sich der Kreis.

Vielleicht ist das Thema ‚Zeit‘ auch deshalb so aktuell, weil schon bald ein neues Kapitel von “Tell me“ aufgeschlagen wird. Freuen wir uns auf den 5. Teil von „Tell me“ am 18.Juni.

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