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München
PHYSISCHE ÄSTHETIK
Eröffnung der Tanzwerkstatt Europa 2020 mit Jefta van Dinthers „Plateau Effect“
Wer sich mit sturmgeblähten Segeln oder Zelten bei Unwetter auskennt, dem stehen bald die Haare zu Berge. Gurte, Schlaufen und Gummibänder in Unmengen – eine zielführende Ordnung ist in dem Einstünder „Plateau Effect“ lange nicht erkennbar. Als Publikum wird man zum Beobachter einer Crew, die im Chaos einer stofflichen Urgewalt um Halt, um Beherrschung der sich durch den Raum bauschenden Materie ringt. Ein echtes Seherlebnis – bestürzend malerisch und schrecklich schön. Und dabei völlig deutungsoffen für vielerlei Assoziationen.
Mit dem abgründigen Törn haben acht Interpret*innen des Berliner Staatsballetts in körperlichen Arbeitskraftakten, die für klassisch ausgebildete Tänzerinnen und Tänzer eher ungewöhnlich sind, am Mittwochabend den Aufführungsteil der Tanzwerkstatt Europa eröffnet. Verblüffend performativ – in der nach allen Regeln der aktuellen Hygienekunst für Kulturveranstaltungen gesicherten Muffathalle. Allesamt waren zuvor negativ auf Covid-19 getestet worden. Zwei, die sich in einem aggressionsaufgestauten Moment kurz ineinander verkeilen, gehören einem einzigen Haushalt an – so steht es auf Aushängen im Eingangsbereich. Unter Tanzschaffenden derzeit eine notwendige Preisgabe von Privatem – unfreiwillig und jenseits von Facebook. Daneben tobte – maskenfrei und querbeet – das gesellige Leben im Biergartenareal des Ampere auf dem Gelände.
Sieben Jahre ist es her, da schickte der gebürtige Utrechter Jefta van Dinther in seiner ersten größeren Auftragsarbeit für ein internationales Ensemble neun Tänzer des schwedischen Cullberg Ballet auf diesen höllischen Trip. Pure physische Ästhetik, die das mittlerweile nicht gerade rühmlich bereits wieder zu Geschichte gewordene Intendanten-Duo des Berliner Staatsballetts Saha Waltz und Johannes Öhmann 2019 – zum Beginn ihrer ersten offiziellen Saison – an die Komische Oper Berlin geholt hatte. Die abgefahrene Herausforderung für die bis in die Fingerspitzen durchtrainierten Kompaniemitglieder war nun erstmals in München zu Gast.
Ein melancholisch-unverständlicher Song, gesungen im Playback, stimmt Darsteller und Publikum auf den folgenden Orkan ein. Die Zyklonfronten bewegen sich zwischen Unüberwindbarkeit und Bezwingerwillen. Sie tauchen die Parabel (Zusammen-)Leben in ein drastisches Wechselbad. Selbst wenn für windstarke Böen und atmosphärische Entladungen bloß Elektroakustik und stroboskopische Lichteffekte sorgen.
Nacheinander werden die Sieben, die zu Beginn zwischen Faltenwürfen stehen, geradezu magisch vom schmutzgrauen Stoff verschluckt. Dieser hängt anfangs noch relativ harmlos von einem Metallgestänge an der Decke herab. Einmal abgenommen und zu einem Klumpen zusammengeschoben, beginnt der Haufen zu pulsieren. Anschließend gilt es, wieder Oberhand über die entfaltete, vorhanggroße Tuchmasse zu gewinnen – in choreografischen Abläufen, die sich nur den Beteiligten erschließen.
Mit voller Power hängen die Tänzer an den Seilen, stemmen ihr Gewicht gegen die virtuos in Szene gebrachte Mächtigkeit der Stoffweiten. Nebenprodukt der hypersportiven Erfahrungstour, aus der jeder der Mitwirkenden anders herauskommt als er hineingestartet ist, sind wundervolle, einem ständigen Wandel unterliegende Landschaftsbilder. Manchmal wirkt es, als würden die Tänzer*innen darin wie von einer äußeren Elementargewalt bewegt. Zeitlupenhaft nach Passagen von Hilflosigkeit, Bedrohung, Kampf und viel – manchmal hektischem – Aktionismus. Es beginnt ein elektrisierendes Sich-Freitanzen. Dann ist Ende. Abrupt. Faszinierend.
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