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München
DIE NEGATIVE UTOPIE WIRD POSITIV
Anna Konjetzky zeigt "The Very Moment" an den Münchner Kammerspielen.
In „The Very Moment“, dem neuen Tanzstück der Choreografin Anna Konjetzky, die zum wiederholten Mal mit den Münchner Kammerspielen kooperiert hat, passiert zunächst wenig. Drei Frauen und zwei Männer stehen auf der Bühne wacklig auf halber Spitze und deuten abwechselnd aufeinander. Die gegenseitige Beobachtung verunsichert zusätzlich. Einer der Tänzer, Maxwell McCarthy, nimmt ein Mikrofon, erklärt Beeinträchtigungen wie Schwerkraft, Bodenhaftung und Balanceverlust, kommentiert instabile Positionen sowie die Anstrengungen, sie zu halten. Er filmt mit einem iPhone Körperteile, die auf die Rückwand in mehreren Feldern projiziert werden. Dann thematisiert er mit den anderen TänzerInnen als Versuchspersonen die Angst, in Momenten ihrer Schwäche, wenn sie scheitern oder stürzen, gefilmt und auf YouTube ins Netz gestellt zu werden. Da scheint es besser, nie die Kontrolle zu verlieren.
Damit hat Anna Konjetzky die Thematik ihres neuen Projekts umrissen und die Voraussetzung für weitere Erkundungen geschaffen. Nachdem in mehreren Sequenzen zum wummernden Sound ihres Komponisten Brendan Dougherty, in den sich kraftvolle Bässe schieben, alle fünf TänzerInnen mit hörbaren Atemstößen ihren Energieausstoß verdeutlicht haben, erscheint auf Videos von René Liebert ein gestürzter Marathonläufer am Straßenrand. Eine Tänzerin stürzt auch, versucht aus derselben Position aufzustehen, taumelt erschöpft. Man kann sich in Lage und Gefühl des gestürzten Athleten versetzen, aber die Bilder wechseln schnell, zum Beispiel zu einem torkelnden Betrunkenen. Und die TänzerInnen erscheinen mit ihrer Illustration der unkontrollierten Momente plötzlich selbst als Projektion. So verdichtet ein Verwirrspiel mit unserer Perspektive das Geschehen.
Dieses nimmt zunehmend Fahrt auf. Rhythmisches Kippen des Rumpfes variiert zwischen Tempo und Statik, wackelnde Knie versetzen die Oberkörper ins Kreisen, auf Stürze folgt mühsames Aufstehen, und zum wiederholten Mal beginnt alles von vorn. Dieses Mal mit Versuchen, die Vertikalität nicht zu verlieren, Risiken aus dem Weg zu gehen. Zu Sätzen wie „Wenn Durchhalten das Einzige ist, was wir gewinnen können, sind wir Verlierer“ wirft diese optisch und verbal fortschreitende Analyse Fragen nach Autonomie- und Motivationsverlusten auf, nach dem Warum, nach dem Wozu und dem eigenen Gefühl dabei. Aber die TänzerInnen bewegen sich weiter intensiv, und die Andeutung einer negativen Utopie wird positiv. Zwar wackelt Sahra Huby wie ein Plastikdackel mit dem Kopf, demonstriert, wie sie zu Dingen oder Spielzeug wird, doch als die anderen die Bewegung aufnehmen, entsteht schon so etwas wie eine moderne Tanzsequenz, die sich, kaleidoskopartig projiziert, in hohem Tempo überschneidet.
Musik und Movements passen oft frappierend, und das Entwickeln tänzerischer Formen aus Momenten des Scheiterns, die nicht mehr kontrolliert sind, beeindruckt. Man weiß, woher die Bewegungen kommen. Die Authentizität wird spektakulär betont, wenn alle fünf TänzerInnen ihre instabilen Positionen halten, während ein Sportreporter das wie rasend kommentiert und die unzähligen Projektionen aus der Außenwelt in Sekundenschnelle wechseln. Da torkelte auch Amy Winehouse bei einer einfachen Pirouette. Hier macht Sahra Huby mit ihrem iPhone nach virtuosen Stürzen Selfies, die als Projektion pulsieren. Anschließend der Satz „Wir haben die Videos. Oder waren wir da und haben es nicht mitbekommen?“ Insgesamt: ein starker Appell von Anna Konjetzky und ihren sich hellwach verausgabenden TänzerInnen (neben Sahra Huby sind es Sooyeon Kim, Maxwell McCarthy, Quindell Orton und Robin Rohrmann) nicht an Vorgeschriebenem festzuhalten, sondern präsent zu sein, den entscheidenden Moment autonom zu nutzen. Auch aufgrund von Dramaturgie (Sarah Israel), Bühne (Andrey v. Schlippe) und Beleuchtung (Wolfgang Eibert) ist dieser aufrüttelnden Produktion viel Publikum zu wünschen.
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