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München
EINSTIEG AUF HOHEM NIVEAU
Das Bayerische Staatsballett erobert sich erneut John Neumeiers „Nussknacker“
Seit 45 Jahren bewährten sich mehrere Generationen von TänzerInnen in der Münchner Fassung von John Neumeiers „Nussknacker“. Die aktuelle Wiederaufnahme am Sonntagabend war die 152. Vorstellung – ausverkauft, wie alle acht anderen Aufführungen der bis zum 4. Januar reichenden Serie! Dieses Handlungsballett zur wohl beliebtesten Musik Tschaikowskys ist aber nicht nur ein Kassenschlager, sondern ein zeitloser Klassiker, weil John Neumeier es vom romantisch verklausulierten Weihnachtsmärchen E.T.A. Hoffmanns in eine Geburtstagsfeier verwandelt hat.
Während dieser Geburtstagsfeier träumt nun die 12jährige Marie davon, ebenso wie ihre ältere Schwester Louise, zur (geschlechts-)reifen Frau zu werden. Und dies wird im Erlernen des klassischen Tanzes metaphorisch dargestellt! Wer seit 30 Jahren die Verkörperungen der Marie von Linda Kalda und Anna Villadolid über Maria Eichwald bis Katerina Markowskaya, des Drosselmeier von Vladimir Derevianko bis Tigran Mikayelyan, der Louise von Evelyn Hart und Judith Turos bis Lucia Lacarra sowie des Günter von Oliver Wehe bis etwa Marlon Dino kennt, hat Vorlieben, die nicht leicht zu erreichen sind. Doch im Verlauf der Wiederaufnahme all dieser Jahre konnte man sich doch von den neuen SolistInnen gewinnen lassen.
Denn die legten kontinuierlich zu. Dies galt diesmal besonders für die agile Nancy Osbaldeston, die am Ende der - unter Roberta Servenikas vom Bayerischen Staatsorchester flockig leicht und luzid gespielten -Ouvertüre als Marie in das vertraute Bühnenbild von Jürgen Rose tollte. Während sie anfangs noch deren Kindlichkeit etwas zu wild übertrieb und in ihrer Darstellung die Wechsel zu den nächsten Stationen noch offensichtlich plante, emanzipierte sie sich immer natürlicher zu einem Talent, dessen Liebe zum Tanz unaufhaltsam zur Entfaltung drängte und virtuos wurde. Wie lernfähig sie ist, bestätigte Nancy Osbaldeston mit ihrer Variation im 2. Akt, in der sie, vorzüglich vorbereitet durch den erfahrenen Ballettmeister Thomas Mayr, alle Nuancen realisierte, die im Detail ihre freudige Überraschung darüber ausdrücken, dass sie jetzt tanzen kann. So stieg die Qualität der Bewegung automatisch, weil sie den Subtext der von Neumeier so reich durchdachten Choreografie berücksichtigte.
Auf Maries Geburtstagsfest war das Ensemble eine Augenweide, tanzten die Kadetten um Bruder Fritz mit militärischer Exaktheit, waren die Gäste eine ebenso amüsante Typisierung der damaligen Gesellschaft. Günter, der Anführer der Kadetten, schenkt Marie den Nussknacker, und bei seiner Zuwendung kommt sie erstmals beim Anblick eines Mannes ins Schwärmen. Mit ihm tanzt die in ihrem roten Kleid strahlende Schwester Louise und wurde zu Maries Vision von sich selbst. Dann kommt Drosselmeier, der Ballettmeister, schenkt ihr Spitzenschuhe und sprengt mit seiner exaltierten Demonstration des richtigen Tanzes egozentrisch den Rahmen. Aber er setzt den Beginn von Maries Entwicklung, die nun in den Tanz gespiegelt wird, und im Traum folgt sie ihm in die kaiserliche Ballettschule. Die szenische Entführung in Maries Traum funktionierte und gipfelte in der Darstellung einer Vorstellung, mit der Neumeier im zweiten Akt eine Abfolge von Bestandteilen klassischer Ballette zelebrieren lässt und Marie deren Teil wird. SolistInnen und Ensemble machten dies zu einem glänzenden Tanzfest.
In diesem metaphorischen Verlauf eines Lebens gewann Emilio Pavan als Günter tänzerische Sicherheit und tragfähiges Format. An seiner Seite verkörperte Prisca Zeisel als Louise mit schönen Epaulements und variantenreichen Port de bras die voll erblühte Sinnlichkeit, die Marie für sich erst ersehnt. Jonah Cook schließlich war als das Alter Ego von Marius Petipa in der Rolle des Drosselmeier glaubhaft ihr wohlwollender Lehrer. Die witzigen Momente in John Neumeiers genialer Choreografie, von erfahrenen DarstellerInnen zauberhaft hingetupft, wurden von allen noch manchmal überzeichnet. Doch das wird sich verlieren, wenn die TänzerInnen Vertrauen in dieses Meisterwerk gewonnen haben und dann wie von selbst auf den Nachdruck in dessen Darstellung verzichten.
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