HOMEPAGE
Regensburg
SYMBOLTRÄCHTIG
Die "Tanz.Fabrik! sechs" in Regensburg
Die sechste Ausgabe mit Choreografien von Mitgliedern des Tanzensembles am Theater Regensburg stand diesmal unter einem einheitlichen Thema. Ensemblechef Yuki Mori hatte vorgeschlagen die neunseitige Typologie des Persönlichkeits-Enneagramms zu nutzen, um die acht Stücke und eine Conclusio zu verbinden. Darauf ließen sich die TänzerInnen-ChoreografInnen ein.
Herausgekommen ist ein richtig spannender Abend mit narrativen und fast abstrakten Teilen, hochemotionalen und atemberaubend dynamischen Pas de deux`; und auch ein paar ruhigeren, vergnüglichen Momenten. Insgesamt war der Reigen an teilweise ähnlichen Formen mit unterschiedlichen Ideen und Vorgehensweisen dann doch etwas viel und bildete quantitativ eine ziemliche Heraus- und gelegentliche Überforderung. Von der tänzerischen Umsetzung war der Abend in jedem Fall ein Hochgenuss, der nur geringfügig Ungenauigkeiten bei synchron gehaltenen Ensemblepassagen aufwies. Auch mimisch und emotional zeigte das hervorragend zusammengewachsene Ensemble exzellente und mitreißende Leistungen.
Der griechisch-armenische Esoteriker und Schriftsteller Georges Gurdjeff benannte zu Beginn des 20. Jahrhundert neun verschiedene, menschliche Charaktere, die im Symbol des Enneagramm platziert sind. In Regensburg nun wird jedem dieser neun Persönlichkeitsmuster eine Choreografie gewidmet. Packend war beispielsweise der Einstieg mit Simone Elliotts „Silent Strings“. Wie fremdgesteuerte Spieluhrtänzerinnen ignoriert die Gruppe die Drehwurm-Impulse einer einzelnen Tänzerin (Harumi Takeuchi), die damit an der abweisenden Starrheit des Enneagramm-Typs 1 scheitert. Die zwei Seiten des Typ 5, distanzierter Beobachter und kluger Zugewandter, entwickelt Tommaso Quartani mit seinem Pas de deux „Helpless/ful“, den er selbst mit Tiana Lara Hogan überzeugend tanzt. Anrührend verzweifelt geriet Hogans eigene Auffassung „Peace or Freedom“ vom Optimisten des Typs 9, dem allerdings irgendwo unterwegs im Bühnenbild – ein überdimensionierter Gummirahmen hing mittig von der Decke – die Luft ausging. Auf andere Weise sprang auch Louisa Polettis erzählerische Choreografie „When All Help Fails“ zum Typ 2 mit Helfersyndrom aus den Gleisen. Die manchmal surreal anmutende Kranken-/Sterbezimmerszene einer Ärztin, die selbst zum hilfebedürftigen Pflegefall wird, drohte in Richtung einer grotesken Geistershow zu kippen. Dagegen glänzten Elliott und Lucas Roque Machado, der selbst den Typ 4 mit „Valerie“ choreografiert hat, in Elliotts zweitem Stück. „Impostor“ setzt sich in einem rasanten Tanzkampf mit dem nach Aufmerksamkeit, Lob und Huldigung heischenden Typ 3 auseinander. Hier kommt auch feministische Haltung zum Vorschein, wenn Elliott Machado immer wieder wütend zurückreißt und –zerrt, um über das verbindende Band Gemeinsamkeit – und wohl auch Respekt – einzufordern.
Rätselhaft war der Einsatz von Billie Holidays „Strange Fruit (hanging from the poplar tree)“ in Machados „Valerie“ zum Romantiker des Typ 4. Dieser halsabschnürende Bluessong, der von „Cry me a River“ abgelöst wurde, verhielt sich zur verspielt-erotischen Fantasie um Schuhe, Frauen und Lippenstift wie die sprichwörtliche Faust zum Auge. Es passte nicht zusammen. Das änderte sich in der intensiven Choreografie „A Safe Place?“ von Alessio Burani zum Typ 8, dem nach Macht und Klarheit strebenden Menschen. Die auch musikalisch zwischen diffus-dunkel und glasklar-hell, Kampf und Zärtlichkeit tobende Choreografie, ein faszinierender Tanz zu zweit mit Burani und Machado, gehörte emotional zu den stärksten Momenten des Abends. Im letzten Stück erarbeitete Matthias Kass mit „Windows“ eine zusammenfassende Schlussfolgerung, die er in einen gesellschaftlichen Kontext stellte. Er bringt das Ensemble wie einen organischen Gesamtkörper in Bewegung und kreiert insektoide, faszinierende Körperbilder. Wie eine vielarmige Shiva entwickelt sich im Tanz der Arme und Hände eine starke Symbolik und Magie, aus der heraus mannigfache Typen geboren werden und wieder da hinein zurückkehren.
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