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München
AUßERGEWÖHNLICH
"Orgel & Tanz in der Philharmonie" im Gasteig München
Matteo Carvones Augen funkeln fast schelmisch, wenn er über das Großprojekt „Faust-Symphonie“ nach Franz Liszt spricht. Seit 2010 hat er bereits zahlreiche kleinere Arbeiten für Festivals und Wettbewerbe kreiert. Mit Goethes „Faust“ hatte der Italiener bisher wenig am Hut. Er stammt aus Triest. Dort nimmt man in der Schule Dantes „Göttliche Komödie“ durch. Am Konservatorium seiner Heimatstadt begann er eine Ausbildung zum Tänzer, die er vor elf Jahren in Mailand abschloss. Von 2012 bis zum Ende der letzten Spielzeit war Carvone im Ballettensemble des Staatstheaters am Gärtnerplatz engagiert. Nun arbeitet er wieder freiberuflich – unter anderem gemeinsam mit dem Norweger Jo Strømgren.
Als Choreograf für die Gasteigproduktion „Orgel & Tanz in der Philharmonie“ wurde Carvone von seinem ehemaligen Chef Karl Alfred Schreiner vorgeschlagen. So kam es, dass er Goethes „Faust“ zu lesen begann und am 13. Juni seine erste abendfüllende Arbeit in München präsentieren konnte. Der Stadt, in der er gern weiterhin heimatlich verwurzelt bleiben will.
Die Herausforderung, der er sich stellte, ohne zu wissen, wie die Musik klingen würde, war enorm. Die Proben fanden an verschiedenen Ecken Münchens statt – mal mit seinen ehemaligen Profikollegen, dann mit Studierenden der Iwanson International School. Nur einmal – eine Woche vor der Uraufführung – kamen alle Beteiligten für eine große Hauptprobe am Aufführungsort zusammen. Umso erstaunlicher, wie sich Carvones Ideen letztlich fast reibungslos zu einer Einheit zusammenfügten.
Inspiriert durch Goethes Tragödie komponierte Franz Liszt „Eine Faust-Sinfonie in drei Charakterbildern". Anlass war die Einweihung des Goethe- und Schillerdenkmals in Weimar 1857. Das Orchesterwerk darf im Konzertbetrieb eher als Geheimtipp gelten. Nun transkribierte und arrangierte der Organist und Leiter des Münchener Bach-Chors Hansjörg Albrecht das Stück für die größte Konzerthaus-Orgel der bayerischen Landeshauptstadt in der Philharmonie am Gasteig neu. Wie sich das anhört, lässt sich in seiner akustischen Dimension auf CD (Oehms Classics) nacherleben. Doch Albrecht ließ es sich nicht nehmen, höchstpersönlich für Carvones Tänzercrew die Register der Klais-Orgel zu ziehen. Bis auf kurze Soundunterbrechungen zwischen den Sätzen (Wortgeflüster komponiert von Enjott Schneider) begleitete er – gut sichtbar seitlich auf der Bühne platziert – 70 Minuten lang ganz allein das bewegungsreiche Treiben. Ein Erlebnis schon deshalb, weil solch ein Kooperationsmodell, noch dazu live, außergewöhnlich und selten ist.
Es dauert seine Zeit, bis sich eine Sogwirkung zwischen Musik und InterpretInnen aufbaut und das, was man zu sehen bekommt, eine choreografische Zugkraft im Raum – dem architektonischen Ambiente des riesigen Konzertpodiums – entwickelt. Bezüge zur literarischen Vorlage lassen sich stellenweise ausmachen. Zum Beispiel, wenn sich Faust und Gretchen im Innern eines mobilen Würfels mit weichen Körperschwingungen zärtlich umgarnen. Was am Ende des Abends aber im Gedächtnis bleibt, sind Bilder. Bewegte Impressionen aus Lichtstimmungen, Projektionen und Tanz, in denen (wie in einem Spiegel) Wesenszüge und Befindlichkeiten der drei musikalisch herausgehobenen Hauptfiguren aufblitzen.
Das einzigartige und ehrgeizige Projekt hat Gasteigchef Max Wagner als Beitrag zum diesjährigen Münchner Faust-Festival in Auftrag gegeben. Eine innovative Inszenierung mit aufwändigem Video- und Space-Mapping (Raphael Kurig) sowie Lichtdesign (Tanja Rühl), bei der Carvones zeitgenössische Choreografie für acht Tänzerinnen und Tänzer des Staatstheaters am Gärtnerplatz und 21 Studierenden der Iwanson International School auf Orgelklang trifft.
Die drei fließend ineinander übergehenden Teile erstrecken sich sehr dynamisch über das gesamte in Stufen aufsteigende Holzbühnenpodest. Hauptprotagonist des ersten Satzes „Faust“ ist Thomas Martino. Matteo Carvone lässt ihn als einen unter bald vielen Fausttänzern immer wieder mit einem goldfolienbespannten Kubus interagieren. Neben einem roten Mantel das einzig relevante Requisit. Gekippt mutiert er zu Gretchens Kammer. Später vergnügt sich darin schamlos zuckend und sich auf die nackte Haut klopfend eine übermütige Teufelsbande.
Rollenträgerin im zweiten Satz „Gretchen“ ist Anna Calvo – absolut sehenswert in einem beinahe romantischen Verführungsreigen. Die hölzernen Flöten der Orgel scheinen die Liebesinfizierte wie eine Feder im Wind oder ein Gewächs mit schwacher Bodenhaftung herumzuwirbeln. In ihren Soli und einem längerem Duett beweist der Choreograf über seine clevere Raumausnutzung hinaus bewegungscharakteristische Eigenheit.
„Mephistopheles“ am Ende sei sein persönlicher Lieblingsteil, verrät Carvone. Hier dürfen sechs ausgewählte InterpretInnen „das Böse in jedem von uns“ tänzerisch pfiffig-genial bis ins Parodistisch-Komische kippend wiedergeben. Amelie Lambrichts, Isabella Pirondi, Luca Phino Seixas, Javier Ubell, Özkan Ayik und nicht zuletzt David Valencia, der Carvones Mephistopheles bewegungstechnisch satyrhafte Züge verleiht, tanzen das diabolische Finale ausgesprochen vergnügungserfüllt. Funken des Fegefeuers fliegen über die Rampe. Die ZuschauerInnen im gut besuchten Saal kontern mit lautem Applaus.
Am 10. Juli geht es mit dem tanzenden Faust weiter. Eingeladen ist das Ballett Dortmund – jene Kompanie, zu der Lucia Lacarra und Marlon Dino nach ihrem Abschied vom Bayerischen Staatsballett wechselten. Auf dem Programm im Carl-Orff-Saal steht Xin Peng Wangs Ballettkreation mit und für die beiden: „Faust II – Erlösung!“ Der Sound dazu mit Musik von Hans Abrahamsen, Louis Andriessen, Luciano Berio, Michael Gordon, David Lang und Pēteris Vasks kommt allerdings vom Band.
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