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Nürnberg
GESCHICHTE EINES ERWACHENS
Zur Wiederaufnahme von Goyo Monteros "Nussknacker" am Staatstheater Nürnberg
Ja, die Nussknacker-Zeit ist entschieden vorbei. Plätzchen mit Zuckerguss sind seit langem verdaut, die Faschingsmasken verstaut. Wer denkt, in Nürnberg würden Jahreszeiten und Rituale verwechselt, der täuscht jedoch. Die Wiederaufnahme von Goyo Monteros „Nussknacker“ sieben Jahre nach der Uraufführung darf aktuell zu den ästhetisch und dramaturgisch substanziellen Ereignissen in dieser Saison in Süddeutschland gezählt werden. Die Fastenzeit und nicht zuletzt das 10. Jubiläum von Montero als Ballettdirektor des Staatstheater Nürnberg laden ein, seiner gegenläufigen Inszenierung des oft lieblich und harmlos inszenierten Ballettklassikers, der 1892 in St. Petersburg das Licht der Welt erblickte, nachzuspüren.
In Nürnberg hat sie besonderen Stellenwert: Monteros „Nussknacker“ war seinerzeit nicht nur das erfolgreichste und beliebteste Tanzwerk des Choreografen; sie bedeutete auch eine wichtige Initiation für die damaligen Mitglieder der Kompanie, gemeinsam mit ihm den neuen Aufbau des Balletts am Staatstheater tatsächlich zu schaffen, erzählt Montero im Hintergrundgespräch.
Von den damaligen Weggefährten – es seien hier beispielsweise Jaione Zabbala, Max Zachrisson, Saul Vega, oder Marina Miguelez genannt - haben fast alle mittlerweile in andere Kompanien gewechselt. Dementsprechend schwer, weil ohne Zeitzeugen, gestaltete sich die Wiederaufnahme. „Ich bin im Vergleich zu vor sieben Jahren heute auch ein anderer als damals“, so Montero, „und damals habe ich zudem neoklassischer choreografiert.
Die Kompanie heute ist von der Bewegungssprache her zeitgenössischer geworden. Sie musste daher in „Nussknacker“ erst hineinfinden und für diese Inszenierung Empathie entwickeln: „Ohne Empathie funktioniert dieser „Nussknacker“ nicht. Er ist eine Reise, die jeder einzelne auf sich nehmen musste, um dem Stück jetzt wieder seine Farbe und Bedeutung zu geben“, führte Montero nachdenklich aus und berichtete, wie er viel mit seinen heutigen Tänzern und Mitarbeitern über die einzelnen Szenen gesprochen habe. „Anders und ohne die Hilfe meines Teams wäre das kaum möglich gewesen. An dem „Nussknacker“ waren und sind praktisch alle Abteilungen und Werkstätten des Staatstheaters beteiligt.“
Denn Montero, Schöpfer des Nürnberger Ballettwunders, das nun mit dem Deutschen Tanzpreis Aktuell ausgezeichnet werden wird, hatte seinerzeit einen kostüm-, figuren- und maskenreichen „Nussknacker“ für Erwachsene entworfen - keinen für Kinder. Seine Klara ist tyrannisch. Die Eltern sind überfordert. Das epigenetische, seit Generationen unbewusst fortwirkende Familiendrama – man könnte auch von Karma sprechen - verdunkelt schließlich in Monteros Fassung die eigentlich schöne Gegenwart, in der nun alles, angetrieben von Tschaikowskys atemberaubender Komposition, zum Horrortrip wird – am schlimmsten für die Heldin, und zwar so lange, bis sie beginnt, alle Schatten und Flüche in ihrem Leben und damit sich selbst derart in der Tiefe anzunehmen, dass sie es sich selbst ermöglicht, erwachsen zu werden und als Erwachsene zu lieben.
Montero traute seiner Intuition, „Nussknacker“ auf der Oberfläche vor allem in der zweiten Hälfte weitgehend von der Tanz-, Nummern- und Bilderfolge der Inszenierungstradition abzulösen und als tiefenpsychologisch und spirituell fundierte Geschichte eines Erwachens zu präsentieren. Der Körper in vielfältiger Form, sei es als Glied, Material oder Figur, diente ihm hierbei als repräsentative Spielfläche, wie jetzt wieder zu entdecken war: Erst durch die sukzessive Annahme des eigenen Körpers und des Geistes, des „Nussknackers“ in einem, gelang die Erlösung.
Die derzeitige Wiederaufführung lässt das Werk hierbei noch deutlicher in seiner inhaltlichen Komplexität und künstlerischen Stringenz, aber auch in seiner gelungenen Dynamik und Kurzweiligkeit hervortreten. Reflexionen über Politik, Religion und Masse blitzen im zweiten Teil auf. An „Nussknacker“ lässt sich auch die erste Zeitenwende in Monteros Oeuvre hin ablesen.
Und auch wer sich nicht auf die tieferen Ebenen einlassen möchte, genießt diesen Nürnberger „Nussknacker“ aufgrund seiner hohen Sinnlichkeit in vollen Zügen: Einzigartig die temporeich erzählte Geburt von Klara aus dem Schoss ihrer Mutter; die temperamentvolle Darstellung des lebhaften Kindes durch Isodora Makrivoa, das, kaum zu bändigen, an Weihnachten alle aufmischt, bis zu dem Moment, in dem sie eine „Nussknacker-Puppe“ geschenkt bekommt, die ihr nicht gefällt. Davor, ebenso rasant und mit Hilfe eines beeindruckenden Maskenspiels erzählt, die mysteriöse Geschichte der permanent Nüsse knackenden, großmäuligen Prinzessin Pirlipat; davor wiederum die tiefe Kränkung der Mäusekönigin, der alle Kinder getötet werden.
Für die zweite herausfordernde Rolle, Drosselmeyer, wählte Montero Rachel Scott. Die attraktive Tänzerin faszinierte bereits in „Don Quijote“ und in „Dürer´s Dog“ in Schlüsselrollen.
Scott füllt die von Montero als allwissende Gottheit konzipierte Gestalt mit großer Wärme und Gelassenheit aus. Durchgehend begleutet sie Klara durch das Stück und damit durch alle Stadien der Selbsterkenntnis.
Ergreifend der Schluss: Als der Moment gekommen ist, an dem Klara mit sich und ihrer Geschichte im Reinen ist, entledigt sich Scott aller Kleider und fällt sterbend in die Arme der Tänzer.
Montero hat „Nussknacker“ auf eigene Weise überwunden.
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