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Regensburg
EMOTIONALE WUCHT UND ANTIGRAZIE
Das Internationale Solo-Tanz-Theater-Festival Stuttgart zu Gast bei den Regensburger Tanztagen
Befreit und fast verächtlich wirft er die Maske beiseite, steht und schaut herausfordernd ins Publikum. Dieses fokussiert im voll besetzten Theaterraum der Universität mit gespannter Aufmerksamkeit auf den Tänzer, der sich aus dem Dunkel hervorgearbeitet hat. Mit seiner Choreografie „Kifwebe.01“ eröffnete Miguel Mavatiko aus dem Kongo die diesjährige Solotanznacht, die längst zu einem festen Bestandteil der Regensburger Tanztage geworden ist. Dabei präsentieren Preisträger des Internationalen Solo-Tanz-Theater-Festivals Stuttgart in einer Gala ausgezeichnete Choreografien und Performances. Heuer waren es fünf Teilnehmer, darunter vier männliche Tänzer.
Hinter der hölzernen Maske kommt kein schwarzes, wie erwartet, sondern ein weißes Gesicht zum Vorschein. Geschminkt wie bei traditionellen Ritualen mancher afrikanischer Völker, provoziert diese Konfrontation weitere assoziative Vorstellungen. Man denkt vielleicht an die „weißen Neger“, Albino-Menschen, die in einigen Ländern und Regionen des afrikanischen Kontinents verfolgt werden. Vor dem Hintergrund des inzwischen weitgehend verpönten „black-facings“, bei dem hellhäutige Darsteller ihre Gesichter schwarz anmalen und „Neger“ spielen, legt Mavatikos kalkweißes Gesicht auch den Gedanken an ein „white-facing“ nahe. In einer derartigen spöttischen Replik läge etwas Trotzig-Aggressives ebenso, wie ein versöhnlicher Gestus. Seht her, hinter dem Dunklen, Unheimlichen steckt ein Mensch, ein Tänzer, der euch von seiner Geschichte, seiner Kultur erzählt.
Und das macht Mavatiko großartig. Mit Ausdrucksmitteln des Breakdance und Hip-Hop beschwört er Geister von Verstorbenen, denn „Kifwebe ist der Geist des Tanzes“. Neben der abgelegten Maske und dem ausdrucksstarken Tanz spielt auch die Musik eine wesentliche Rolle. Eine Jazznummer stellt die Verbindung zur afroamerikanischen Kultur her, bevor Mavatiko seine Choreografie mit der souligen Selbstbehauptung „Every Nigger is a Star“ des jamaikanischen Sängers Boris Gardiner triumphal abschließt.
Für seine Performance von „Separation Among Us“ ist der slowenische Tänzer Jernej Bizjak ausgezeichnet worden. Emrecan Tanis setzt mit seiner schnellen, von Bizjak mit emotionaler Wucht getanzten Choreografie dem „im Irak verschwundenen Tänzer Adil Faraj ein Denkmal“, wie es im Programmzettel heißt. Angetrieben von einem hartnäckigen, maschinellen Groove bringt Bizjak mit nacktem Oberkörper und bodenlangem Rock die ganze Palette von Schmerz über Wut bis Ratlosigkeit packend zum Ausdruck. Auch hier spielt, wie bei weiteren Tanzstücken, die Musik eine bedeutende Rolle – was man gerne in der eher dürftig gehaltene Programm-Info gelesen hätte.
Musikalisch fast bedrohlich tastet sich der Franzose Benoit Couchot in seine eigene Choreografie „Mutiko ala Neska“. Spinnenartig tupfen seine Beine den schwarzen Tanzbelag ab, verbiegt sich sein Körper in grotesken Formen und schüttelfrostartigem Schaudern, als wolle ein kampfbereites Insekt seine Gegner einschüchtern. Obwohl durchaus muskulös, wirkt der schlanke, fast nackte Mann mit dem hochgesteckten Haar manchmal wie ein ausgezehrter Hungerkünstler. Das machen die extreme Überdehnung des Oberkörpers und die Verbiegungen der Gliedmaßen aus, die einem fast den Atem stocken lassen. Mit beeindruckender Antigrazie hinterfragt der mit Publikumspreisen bedachte Franzose auf diese Weise das zu Unrecht bei uns in Verruf geratene Genderthema: „Welcher Gedanke steckt eigentlich hinter den Geschlechtern?“
Witz bringt der Finne Samuli Emery mit seiner verblüffend originellen Performance von „We Do This. We Don`t Talk“ – Wir machen das, wir reden nicht – von Barnaby Booth ins Spiel. Wie bei kleinen Videoschnipseln, tausendfach auf Facebook verbreitet, in denen eine Geste oder eine kurzer Bewegungsablauf mehrfach oder gar endlos hintereinander abgespielt wird, produziert Emery alltägliche Verlegenheitsmuster und Bewegungen. Als hänge eine altmodische Schallplatte immer wieder, bis die Nadel ein Stück weiterspringt, spiegeln sich in Mimik und Gestik des hinreißenden Tänzers Gefühlszustände, die wir an uns normalerweise kaum bewusst wahrnehmen. Ein wunderbar vergnüglicher und zugleich reflexiv angelegter Tanzspaß zu Diskosounds und Atemgeräuschen.
In „? I mA“ interpretiert die Italienerin Erika Silgoner rückwärts verschoben mit ihrer Choreografie Identitätsfragen. Zu elektronisch sägenden und bohrenden Geräuschen, teilweise auch still von Gloria Ferrari kraftvoll getanzt, pocht sie auf darauf, wahrgenommen zu werden, dann geht ihr wieder die Luft aus. Ausdehnung und ein mutloses Zusammensacken liegen hier eng beinander – überzeugen aber nur teilweise. Dennoch ein faszinierender Tanzabend voller Überraschungen und starker Eindrücke.
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