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München
DREI STARKE FRAUEN IM STRUDEL DER HEIMATFINDUNG
Die Tanzperformance „Heimat…los!“ von Ceren Oran im i-camp
Ceren Oran, geboren 1984 in Istanbul, absolvierte ihre künstlerische Ausbildung an der Salzburg Experimental Academy of Dance und ist seither freischaffend in Österreich und anderen europäischen Ländern tätig. Eine harte Zeit, wie sie selbst sagt, denn Jahr für Jahr musste sie sich durch die gleichen bürokratischen Aufenthaltsantragsverfahren kämpfen. Inzwischen ist sie frisch verheiratet. Ein Schritt, so sagt sie, den sie nicht zwingend getan hätte, wenn er ihr Leben nicht so viel einfacher machen würde. Ihre Liebe auf Papier – Ceren Oran und ihr Mann lebten auch vorher glücklich zusammen.
Doch für sie ist der Kampf um „Heimat“ nicht nur ein bürokratischer. Die politischen Unruhen in der Türkei geben ihr das Gefühl nicht zurückzukönnen. In Österreich wird nicht verstanden und akzeptiert, dass sie als engagierte Theatermacherin die Zukunft wesentlich mitgestalten möchte. Sie ist heimatlos.
Für ihre aktuelle Arbeit holte sie sich zwei weitere Frauen mit türkischen Wurzeln an ihre Seite: Die Sängerin und Komponistin Nihan Devencioğlu sowie die Videokünstlerin Funda Gül Özcan. Die drei Künstlerinnen spannen in „Heimat…los!“ über drei Kapiteln (Kapitel 1: Heimat, Kapitel 2: … sowie Kapitel 3: los!) ein intermediales, ästhetisches und perspektivenreiches Netz zum Thema Heimat.
So zum Beispiel im ersten Kapitel der Pressevorstellung, wenn Funda Gül Özcan eine Gasse der türkischen Hauptstadt mit weißer Tinte auf Butterbrotpapier, das abgefilmt und wandfüllend projiziert wird, skizziert. Es entsteht eine Idylle, die durch traditionelle Schrittkombinationen der ganz in schwarz gekleideten Ceren Oran und orientalische Musik unterstrichen wird. Die Frauen brechen das Bild, als Nihan Devencioğlu Samples der Unruhen im Gezi-Park zu den Klängen mischt und die Tänzerin kämpfende und schützende Posen der Demonstranten aus Istanbul performt, die die Videokünstlerin flächig und in schwarz über den Straßenzug auf Pergamentpapier malt.
Das Zentrum des zweiten Kapitels stellt ein außermittig platzierter Erdhaufen dar. Während Nihan Devencioğlu live Samples einsingt, einspielt und diese immer weiter loopt, bis eine gewaltige, basslastige Musik- und Soundkulisse entsteht, bildet Ceren Oran kleine Wege und Inseln aus Erde. Verbindungen entstehen, Trennungen werden bewirkt. Die zuerst willkürlich wirkende Verteilung findet ihre Ordnung in einem den Bühnenraum einnehmenden Kreis. Die Bewegungen der Tänzerin werden schneller, unkontrollierter, hektischer und gipfeln in dem Versuch sich selbst mit den Füßen im größten verbliebenen Haufen einzugraben – zu verwurzeln. Vergeblich. Auch hier fehlt es nicht an Schwarz-Weiß-Symbolik: Auf den weißen Tanzboden wird die Aufnahme einer Wasseroberfläche, in welche schwarze und weiße Tinte tropft, sich verteilt, verschwimmt und verschwindet, abgebildet.
Den Höhepunkt des Abends stellt jedoch das dritte Kapitel dar. Nach einem Black folgen, die Verzweiflung des vorangehenden Bühnengeschehens kontrastierend, Vogelgezwitscher und das malerische Trailer-Video, in dem Ceren Oran vom Wind umspielt in der Natur tanzt. Die beschaulich anmutende Kulisse verfügt jedoch über einen starken politischen Hintergrund: Was wir sehen ist das krisengeprägte Grenzgebiet der Türkei und Syriens. Nach einem Jump Cut sehen wir den realen Schauplatz des Heimatverlustes vieler Menschen in einen bayerischen Fichtenwald versetzt. Die Leinwand im Wald ist ein Kniff Funda Gül Özcans, die in Garmisch geboren ist und dies als ihre Heimat bezeichnet. Sie unternimmt den Versuch, die heimatlose Choreografin in ihre Heimat zu verpflanzen.
Doch nicht genug der Erd- und Wurzel-Metaphorik. Für die nächtlichen Waldaufnahmen vergruben die drei Frauen einen Subwoofer in der moosbedeckten Erde und ließen lose Erdklumpen durch westliche elektronische Musik darauf tanzen. Ein überwältigendes, unheimliches, synästhetisches Erlebnis für den Zuschauer. Was folgt, sind schnelle, durch zentrale Achsenspiegelung in die Tiefe laufende, kreisförmige Schwenkaufnahmen des Waldes. Ceren Oran tanzt sich drehend in Derwisch-Manier in Ekstase. Wir hören Fragmente der Antworten, die die Choreografin erhielt, als sie Migranten fragte, was für sie Heimat sei. Es entsteht ein Sog, der in Ceren Orans selbsternannter „Heimat“ Auflösung findet: Ein Arrangement eines Volkslieds vom Schwarzen Meer, in dem Ehe und Alltag besungen werden.
Trotz der breitgestreuten Schwarz-Weiß-Symbolik, vermeidet „Heimat…los!“ es plakativ zu werden. Persönliche Hintergründe und dokumentarisches Material verschmelzen zu einem authentischen Abend. Die drei Künstlerinnen schaffen eine gelungene Synthese ihrer Teildisziplinen und lassen den Zuschauer auf weitere Arbeiten dieser Konstellation hoffen.
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