LEUTE
München
ABSOLUTER KÖRPER-KENNER
Der dreiteilige Ballettabend "Der gelbe Klang" eröffnet die Ballettfestwoche München
Klänge können Farben evozieren – und umgekehrt. Mit diesem Phänomen der Synästhesie haben sich in den 1910er Jahren eine Reihe von Künstlern beschäftigt, vor allem der russische Maler Wassily Kandinsky in seinen Bühnenkompositionen. „Der gelbe Klang“ – erschienen 1912 im Almanach der von Kandinsky mitbegründeten Münchner Künstlergruppe „Blauer Reiter“ – ist ein abstraktes Musik-Farben-Bewegungs-Spiel, das, so Kandinsky, innere Erlebnisse beim Zuschauer auslösen soll. Für den Auftakt der diesjährigen Staatsballett-Festwoche (4. -13. 4., Münchner Nationaltheater) hat der Performance-Künstler Michael Simon Kandinskys Konzept neu umgesetzt, zeitgenösssisch verwegen zu Musik von Frank Zappa.
Unter dem synästhetischen Motto „Der gelbe Klang“ stehen auch die beiden anderen Uraufführungen des Abends: „Konzert für Violine und Orchester“ der Kanadierin Aszure Barton zum Violinkonzert von Mason Bates und „Spiral Pass“ des feinen britischen Tanzschöpfers Russell Maliphant zu Musik des Londoner Szene-Komponisten Mukul. Mit Maliphant und seiner Assistentin, Ehefrau Dana, konnten wir anschließend an einen Probenbesuch sprechen.
Seit der Staatsballett-Übernahme 2012 von Maliphants Trio „Broken Fall“ (2003) hat der 52jährige Brite hier eine große Fangemeinde. In München vorgestellt hat ihn eigentlich zuvor schon "Joint Adventures"-Chef Walter Heun. Bei Heuns „Tanzwerkstatt Europa“ 1996, '97 und '98 unterrichtete Maliphant Contact-Improvisation und zeigte sein „Unspoken“ und sein Solo „Shift“. Beide – wie ja auch sein zwischen Schwerkraft und Kontrolle angelegtes „Broken Fall“ – sind auffallend skulpturale Arbeiten. Dabei gelingt es Maliphants langjährigem künstlerischem Partner Michael Hulls immer, mit seinem sublimen Licht Körperlinien und Muskelpartien noch plastischer hervorleuchten zu lassen. Jetzt in der Probe jedoch entdeckt man einen neuen pointiert dynamischen Maliphant: die Tänzer bewegen sich in fortgesetzten spiraligen Drehungen durch die Weite des Raums; loten Oben und Unten aus in vertrackt tief zu Boden kreiselnden Figuren. Dana Maliphant, die zwischendurch auch Probenfotos schießt, dabei alles genau beobachtet, nähert sich diskret einem Tänzer, der mit einer verschraubten zu Boden gehenden Figur noch etwas kämpft. Sie zeigt ihm, wie das Knie besser auf den Boden aufzusetzen ist und rät ihm zu einer leichten Kontraktion in der Körpermitte – und jetzt funktioniert's butterweich.
Maliphant, zunächst länger beschäftigt mit Solist Karen Azatyan, der immer wieder eine teuflische Dreh-Schlitter-Einhandradschlag-Passage wiederholt, wendet sich nun in seiner ruhigen, aus entspannter Konzentration kommenden Art der Gruppe zu: „Denkt beim 'rond de jambe à terre' (im Halbkreis Schleifen des Beines am Boden) an den dagegen gehenden Twist im Oberkörper und den mitschwingenden Arm. Und lasst die Armbewegung schon im unteren Körperzentrum beginnen. Dann bekommt dieser Schritt mehr Linie, mehr Kontur. “Ein wichtiger Hinweis, da klassisch ausgebildete Tänzer die Arme eher isoliert vom Körper führen.
Russell Maliphant ist ein absoluter Körper-Kenner. An der Londoner Royal Ballet School klassisch ausgebildet und zunächst im Royal Sadler's Wells engagiert, erarbeitet er sich bald als frei schaffender Künstler moderne und zeitgenössische Stile bei Gruppen wie DV8 und Laurie Booth & Company. Zusätzlich studiert er Anatomie, Biomechanik und Rolfing, eine komplementärmedizinische Methode, die er selbst praktizieren darf. In Dana (unter ihrem Mädchenamen Fouras findet man sie als junge blendende Tänzerin im Netz. 1986 gewann sie den Prix de Lausanne) hat er die ideale künstlerische und Lebens-Partnerin gefunden. „Nach sieben Jahren im Royal Ballet wollte ich etwas anders machen. Ich habe in Russells Unterricht und durch unser gemeinsames Auftreten dann alles über moderne Tanztechniken und -stile gelernt“, erzählt sie. Neben den Pflichten als zweifache Mutter arbeitet sie ihrem Mann auf mehreren Ebenen zu, ob in den Stücken für die 1996 gegründete Russell Maliphant Company oder in seinen Gastchoreografien. Dana: „Wenn Russell mit seiner Improvisationsarbeit für ein neues Stück beginnt, suche ich nach in etwa passendem Musikmaterial: Klassik, Pop, Clubbing, Elektronisches, Geräusche. Das bekommt dann der jeweilige Komponist als eine Art anregende Leitlinie.“
In den Medien ist immer zu lesen, dass Maliphant seinen Durchbruch mit dem 2003 für Star-Ballerina Sylvie Guillem choreografierten „Broken Fall“ hatte. Maliphant rückt zurecht: „In der zeitgenössischen Szene waren wir schon vorher bekannt, wurden auch schon mehrfach ausgezeichnet. Aber sicher haben wir mit der Arbeit für Guillem ein breiteres, ein Ballett-Publikum erreicht.“ Während er inzwischen für etablierte Ensembles wie das Lyon Opera Ballet, das Ballet de Lorraine, das English National und das Royal Ballet und jetzt mit „Spiral Pass“ erstmals auch fürs Staatsballett kreiert, bleibt seine Company für ihn spannendes choreografisches Labor: „Die Sprache des Tanzes kann sich noch unendlich neu bereichern, durch bildende Kunst, Poesie, durch Yoga, Tai Chi, Chi Gong, durch all die Tanzformen anderer Länder, zu denen man heute durchs Internet leichten Zugang hat. Ein ganzes Leben reicht nicht aus, um die Fülle der Möglichkeiten auszuschöpfen.“
Premiere ist am 4. 4., 19 Uhr 30 im Münchner Nationaltheater. Karten 089/2185 - 1920
Das Festwochen-Programm:
„Der gelbe Klang“ (4./5. 4.)
„Dido & Aeneas“, Gastspiel Sasha Waltz & Guests (8./9. 4.)
„La Baydère“ (10. 4.)
„Ein Sommernachtstraum“ (11./12. 4.)
„Forever Young“: „Broken Fall“, „The Moor's Pavane“, „Choreartium“ (13. 4.)
Matinee der Heinz-Bosl-Stiftung/Junior Company (13. 4., 11 Uhr)
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