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München
LUSTWANDELN IM GARTEN EDEN
Johanna Richters "Secret Garden" feiert Premiere in der Schauburg München
Wenn ein Engländer den Titel "Secret Garden" hört, denkt er unweigerlich an den gleichnamigen Jugendroman von Frances Hodgson Burnett. In der Tat haben der Roman und das neue Stück der Choreografin Johanna Richter sehr viel gemeinsam: Durch das Neuentdecken eines Eden ähnlichen Gartens verändert sich eine unruhige, oft streitsüchtige Gruppe unterschiedlicher, verstrickter Menschen und holen sich damit ein wenig Harmonie und Glückseligkeit in ihr Leben zurück.
Von Choreografin Richter ausgezeichnet charakterisiert, verkörpern die internationalen Darsteller verschiedene Typen. Durch die Mischung von Tänzern (Caroline Finn, Alan Brooks, Miguel Fiol Duran und Volker Michl) und Schauspielern (Joy Bai, Tim Bergmann und Jannis Spengler) gelingt Richter eine nuancierte Tanztheater-Aufführung, die nicht wortlos aber ohne Worte ein menschliches Dilemma erzählt, die an die Bedingungen unserer hektischen Zeit eng geknüpft ist.
Die chaotische Nacht vor dem Klub, wo Einlass keine Selbstverständlichkeit ist, gibt jedem der sieben Darsteller die Möglichkeit, sich durch einige Markenzeichen-ähnliche Bewegungen zu charakterisieren. Bai spielt mit ihren langen blonden Locken (wodurch sich anfangs gleich eine Strähne zu ihrem Entsetzen abtrennen lässt); Brooks führt immer wieder eine Art Highland-Jig aus; Michl blockt jeden (insbesondere Finn) ab, der an den Baum rangehen möchte, wo er etwas geschnitzt hat. Für den körperlichen Komik-Star Fiol Duran ist Luft so etwas wie Wasser für den Fisch: Fast glitzert er durch seine flüssige, sich windenden Bewegungen.
Brooks verkündet „Don’t give up because a life lived in fear is only half lived“. Das verrät den Grund für die aggressive Rastlosigkeit: Die Angst, nicht in den Klub reingehen zu dürfen, oder den Partner zu verlieren, oder keinen Partner zu finden, nicht hübsch genug zu sein – oder ganz einfach irgend etwas zu verpassen (auf Englisch: FOMO – Internet-Kürzel für fear of missing out). Diese Angst treibt uns, reflektiert in den Tänzerfiguren, in immer ziellosere, hektischere Geschäftigkeit.
Die weiblichen Darsteller frönen ein Zicken-Gehabe, das allerdings weniger ausgeprägt ist als das bedrohliche Machogehabe der Männer, die eine Testosteron trunkene, Brust an Brust prallende Körperlichkeit erzeugt. Vier der männlichen Darsteller finden sich hier aus einem früheren Werk wieder: Richters "Intimate Stranger" zeigte ebenfalls die wahre Einsamkeit innerhalb einer Gruppe.
Nach einem gefühlt langen Abend der kleinlichen Auseinandersetzungen wird die Bühne einer Wandlung unterzogen – gelungen, durch Bühnenbildner Mark Rosinski und Lichtgestalter Hans-Peter Boden. Der kahle Baum hinten links wird im warmen Licht gebadet, ein Blüten bedeckter Ast und lange Lianen senken sich über die Köpfe der psychisch erschöpften Klubbesucher. Ein grünes Kleid erscheint, damit Finn ihre hautenge Hose und Glitzerhemd bedecken und sich in eine Waldnymphe verwandeln kann. Bai entledigt sich der blonden Perücke und dunklen Brille und stellt zum ersten Mal einfach sich selbst dar. Die zuckende Aggressivität der Tänzer schmilzt in eine fließende Körperlichkeit, die Wohlwonnen und Gemeinsamkeit ausdrückt.
Die Schönheit und der Schutz des Gartens erlaubt den von Rastlosigkeit und Unsicherheit geplagten Menschen ihre spröden Persönlichkeitshüllen zu sprengen. Als sich der Garten wieder entfernt, das Licht wieder kalt wird – und Finn ein beeindruckendes Solo ausführt, in dem sie sich, scheinbar von einem inneren Dämon besessen, aus dem Kleid wie aus einer zu engen Haut löst – finden sich die Darsteller vor dem Klubeingang wieder. Die Sanftheit des Gartens hat sie aber nicht endgültig verlassen: Die neue Menschlichkeit ihrer Bewegungs-Markenzeichen führt sie jetzt zusammen statt sie zu Distanz zu verdammen, und als zusammengewachsene Gruppe heißen sie die Morgenröte in ihrem Leben willkommen.
Zwei dramaturgische Elemente könnten hier jedoch verbessert werden. Erstens findet nach der anfänglichen Charakterisierung der Figuren lange keine wirkliche Entwicklung mehr statt, so dass sie bis zum erstaunlichen Erscheinen des Gartens lange immer dasselbe, nur leicht abgewandelte Gehabe vertreten. Ein wenig mehr Intensivierung bis zur Ankunft des Gartens würde diesen Tanz auf dem Vulkan deutlicher herausragen lassen und den Unterschied mit der Stille des Gartens hervorheben. Und obwohl das Erlebnis des Gartens der eigentliche Hauptpunkt des Stücks ist, dauert dieser Ablauf einfach zu lange. Vorstellungen leben von dem Drama, das sie erzeugen. Nach dem anfänglichen Staunen bringt die Darstellung der wohltuenden Beschaulichkeit des Gartens das Stück ein wenig in die Flaute, bis sich der Garten wieder entfernt.
Durch die Mischung von Schauspielern, die eine Persönlichkeit intensiv zu projizieren vermögen, und Tänzer, die mit ausdruckstarker Bewegungskunst kommunizieren, entsteht in "Secret Garden" ein Ensemble voll von Dynamik und Charakter. Richter ist es gelungen, die Geschichte junger, innerlich verlorener Menschen in einer gut wiedererkennbaren Situation ergreifend und humorvoll zu erzählen.
Schauburg München, weitere Termine 11.3., 27.3., 28.3.,29.3.,28.4., 29.4., 19h30; 11.3., 12.3., 29.4., 30.4. 10h30
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