LEUTE
München
DIE KÖNIGSDISZIPLIN DES SCHATTIGEN
Für den Münchner Tänzer und Choreografen Stefan Marria Marb wäre ein Leben ohne Butoh kein Leben.
Wie verlief Ihre erste Erfahrung mit dem Butoh?
Ich bin eher zufällig auf den Butoh gestoßen. Ich habe eine Ausbildung zum Bühnentänzer absolviert, hatte klassisches Ballett, Jazz, moderne und zeitgenössische Techniken erlernt. Doch ich spürte, dass mir etwas fehlt. Während der Sommertanzwochen in Wien im Jahr 1988 habe ich zwei Wochen Workshop bei dem Japaner Ko Murobushi belegt. Das war die Initialzündung. Ich merkte plötzlich, dass mein Körper auf Butoh reagierte. Von da an lag es mir fern, meinen Körper mit der verletzungsträchtigen Balletttechnik zu triezen. Was mich auch begeisterte, war dass der Innenraum des Tänzers, das Seelische, im Mittelpunkt des Tanzes stand. Dies war genau das, was mir in den klassischen Tanzausbildungen fehlte. Nicht dass mir klassisches Ballett oder moderne Tanzrichtungen nicht Spaß gemacht hätten, aber sie sind zu sehr auf Jugend, Technik, Perfektion und Schönheit ausgerichtet. Ich wollte weg von diesen eher olympischen Tugenden. Auch erlaubt der Butoh mit seinen charakteristischen gegensätzlichen Bewegungsqualitäten wie schnell-langsam, weich-hart oder wild-zärtlich einen differenzierten Einstieg in die Bewegung und schließt dennoch ein großes Bewegungsspektrum nicht aus.
Worin liegt der Unterschied zu Yoga, Qigong und all den anderen östlichen Bewegungs- und Körperphilosophien?
Die Bewegungskonzepte, die dem Yoga, Tai-Chi oder Qigong unterliegen, sind zwar ganzheitlich orientiert, lassen aber der eigenen Kreativität nicht genug Raum. Butoh arbeitet demgegenüber mit dem Material, das man selbst mitbringt, vergleichbar mit dem deutschen Ausdruckstanz oder tanztheatralen Formen. Doch Butoh fokussiert − im Gegensatz zum Ausdruckstanz − nicht nur die Expression; Butoh manifestiert sich im Prozesshaften. Zudem fasziniert mich die asiatische Schlichtheit und Disziplin, ein Thema genuin körperlich zu begreifen.
Wie kann man sich das vorstellen?
In meinem Unterricht gehe ich so vor: Ich lasse die Tänzer in sich gehen, lasse sie in ihren eigenen Innenraum schauen, um dort nach Verletzbarkeiten und Brüchen im Zuge eines Bodymemory-Prozesses zu suchen. Ich gehe davon aus, dass jede Zelle über eine Vielzahl von Erinnerung verfügt; Erinnerungen von selbst erfahrenen Ereignissen und Erlebnissen. Über einen längeren Zeitraum lasse ich die Tänzer ihre Erinnerungen erforschen und sich mit der eigenen Körperthematik auseinandersetzen. Zum Schluss filtriert sich eine Erinnerung oder eine Emotion heraus. Diese wird vertieft, abstrahiert und dient der tänzerischen Improvisation. Dieser sukzessive Abstraktionsprozess ist das Wesentliche im Butoh. Für mich symbolisiert Butoh eine Reise – ich meine dies nicht nur im motorischen Sinne, sondern auch in Bezug auf eine geistige Transformation. Insofern ist es ein längerer Weg, bevor man auf die Bühne geht und den Tanz präsentiert.
Wann wissen Sie als Choreograf, dass es soweit ist?
Es ist ein dialogischer Prozess. Ich als Choreograf sehe es auch und habe inzwischen ein Auge für die Reife der Tänzer entwickelt. Am Anfang steht eher das Suchen, gegen Ende strahlen die Performer Klarheit, Sicherheit und Präsenz aus.
Welche Bedeutung hat der Schatten im Butoh?
Der Butoh ist die Königsdisziplin des Schattigen. Das lässt sich zurückführen auf die Historie Japans. Butoh ist dort u.a. aus der furchtbaren Erfahrung der Atombomben-Abwürfe 1945 heraus entstanden. Dies hat in der Gesellschaft selbstverständlich Spuren hinterlassen. Künstler haben auf diese Thematik reagiert.
Generell beschäftigt sich der Butoh mit existentiellen Themen wie Tod, Geburt, Alter oder Krankheit. Insofern ist der Schatten im Butoh per se präsent. Das Leben hat meistens zwei Seiten, Licht und Schatten, diese schließt der Butoh im Vergleich zu westlichen Tanztradition wie dem klassischen Ballett nicht aus. Am Beispiel der Tanzhaltung zeigt sich diese Differenz deutlich: das klassische Ballett präferiert durchgestreckte Beine, strebt die Schwerelosigkeit an. Im Butoh zählen dagegen die Durchlässigkeit, die Verbindung zur Erde: die Knie sind gebeugt. Ein weiterer Aspekt des Schattens ist das Alter. Ich als Tänzer spüre selbstverständlich inzwischen meine Jahre, aber im Butoh kann ich diese Reife als Stilmittel einsetzen und erweitere dadurch meine Ausdrucksmöglichkeiten. Nach dem Motto: Je älter desto besser.
2005 habe ich Kazuo Ohno in Japan besucht. Er war damals 98 Jahre alt und bettlägerig. Seine Hände bewegten sich – für mich war es eindeutig ein Tanz. Ohnos faltiges Gesicht war pergamentartig und hat dadurch einen starken Eindruck bei mir hinterlassen. Die Begegnung mit dem Schatten wird im Butoh wertfrei gelebt. Man verspürt keine Angst vor Angst, Tod, Alter oder ähnlichem.
Wie schätzen Sie die Butoh-Szene, speziell in München, ein?
Butoh hat weltweit seit seinen Anfängen eine starke Weiterentwicklung durchlaufen, sich von Japan emanzipiert und neue Formen entwickelt. Die Butoh-Anhängerschaft in München wächst zunehmend. Ich unterrichte seit 20 Jahren, viele meiner Schüler fühlen sich seit vielen Jahren von Butoh angesprochen. Ich habe Phasen beobachtet, in denen der japanische Tanz regelrecht gehypt wird. So wie in den 1980er Jahren, als die ersten Workshops angeboten wurden. Auch nach der Ausstrahlung von „Kirschblüten Hanami“ von Doris Dörrie kam dem Butoh vermehrt Popularität zu. Eingefleischte Butoh-Tänzer sind oft Menschen, die auf der Suche nach einem seelischen oder emotionalen, künstlerischen Ventil sind, sie tanzen fernab jeder Modeerscheinung.
Was versprechen Sie sich von dem Festival „Sea.Sons“?
Für Andreas Wenzlik und Seda Büyüktürkler, zwei meiner langjährigen Schüler und die Initiatoren des Festivals stand ursprünglich die Zusammenarbeit mit dem italienischer Tänzer Alessandro Pintus im Vordergrund. Inzwischen wurden Tadashi Endo, die Französin Lucie Betz sowie die Deutschen Diether Sommer, Brigitte Spielmann-Sommer, Andreas Weimann und ich in das Festival mit einbezogen. Neben Workshops und Aufführungen bietet „Sea.Sons“ Interessierten die Möglichkeit sich auf einem Symposium zur Vergangenheit und Zukunft des Butohs auszutauschen oder sich in einer Foto-Ausstellung und einer Video-Installation mit dem Thema näher zu befassen.
Ich finde das Festival eine tolle Initiative und ich wünsche mir, dass der Butoh dadurch mehr Aufmerksamkeit erhält. Butoh fällt inzwischen leider oft aus der städtischen Einzelprojektförderung komplett heraus, das war vor einigen Jahren noch nicht so stark bemerkbar. Das ist schade, denn die Butoh-Choreografen sind äußerst produktiv und erreichen durch den Generationen übergreifenden Ansatz ein breites Publikum.
Auch in diesem Festival werden Kräfte aus den verschiedenen Generationen gebündelt werden. Butoh ist auch in dieser Hinsicht einzigartig, da er sehr viele Generationen umfassen kann. Meine jüngste Schülerin ist 25, mein Ältester knapp 80 Jahre alt. Hier bietet das Festival einen Ort des Austausches.
Sie nutzen in Ihrer Arbeit als Diplom-Psychologe den Butoh als Teil der Tanztherapie.
Die Begegnung mit den eigenen Neurosen, Ängsten oder Depressionen schließt sich im Butoh nicht aus, im Gegenteil, sie werden ganz bewusst mit einbezogen. Im Tanz wird eine Transformation und letztlich eine Heilung angestrebt. Im Butoh-Unterricht erlebte ich ständig, dass Tänzer nach der Unterrichtsstunde über ihr positives Empfinden berichten. Auf diesem Wege bin ich zur Tanztherapie gestoßen. In meiner Therapie lasse ich gezielt Butoh-Ansätze miteinfliessen, immer in Abstimmung mit dem Patienten und in Rücksicht auf dessen seelische Stabilität.
Einige meiner Klienten bringen von sich aus ein gutes Körperverständnis mit in die Therapie. Anderen wiederum setzt eine ernsthafte Krankheit schwer zu. Oft fühlen sich Erkrankte mit ihrer ernüchternden medizinischen Diagnose allein gelassen. Dabei glaube ich nicht, dass man nur mit Chemie oder Medizintechnologie Krankheiten bekämpfen kann. Menschen wollen ihre Krankheiten begreifen, sich mit ihnen auseinander setzen. Man kann zum Beispiel auch mit Krebs tanzen – falls man sich der Krankheit stellen möchte. In Zuge einer körperlichen Auseinandersetzung stärken die Betroffen ihr Selbstbewusstsein, was die eigene Selbstheilung enorm aktivieren kann.
Das Interview entstand im Auftrag des Münchner Feuilletons.
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