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Regensburg
DER VERLORENE PRINZ IM 21. JAHRHUNDERT UND VIVALDI GANZ KURZ
Bislang unentdeckt: Die Tanzakademie Helene Krippner in Regensburg entpuppt sich als intensiver Ort des Tanzes jenseits des Establishments
Die Obermünsterstraße in Regensburg verläuft kopfsteingepflastert und immer irgendwie schmuddelig im Vergleich zum touristisch aufbereiteten Rest im Zentrum des welterbegeschützten Altstadtensembles. An ihr prangt unter der Nummer 9 das Stauffer-von-Ehrenfels-Palais. Ein großer Kasten, er scheint erst vor kurzem wieder mal gestrichen worden zu sein. Hellgrün. An den Fenstern drücken sich manchmal Passanten die Nase platt, denn in seinem Erdgeschoss lagert das langlebige Tanzstudio Krippner, benannt nach der gleichnamigen Helene Krippner, deren Verdienst es ist, als Schülerin von Mary Wigman und Rosalia Chladek dem harten Boden der Oberpfalz Mitte der 1920-er Jahre die Begeisterung für den Neuen Freien Tanz einzuhauchen. Seit zwei Jahren beherbergt das Studio die Tanzakademie Helene Krippner. Diesen Samstagabend entpuppte es sich als einen der berührendsten Bühnenorte zeitgenössischen Tanzes irgendwo in Deutschland abseits der sogenannten Tanzzentren und Hauptstädte des Tanzes, wie es schon länger nicht mehr in dieser Intimität, Unaufgeregtheit, Ehrlichkeit und Intensität zu entdecken war. Eva Eger, Leiterin des auf drei Jahre angelegten Ausbildungsstudienganges Bühnentanz und Performance, hatte den Tanzabend schlicht und tiefstapelnd als „Past the Task. Auf dem Weg zum Profitänzer. Öffentliche Zwischenprüfungen“ angekündigt. Drei, vier Stuhlreihen besetzten den Probensaal, ein schwarzer Vorhang auf der gegenüberliegenden Wand, ein paar Scheinwerfer, weißer Tanzboden, im Vorraum ein Tisch, an dem ein paar Tickets verkauft wurden - mehr brauchte es nicht, um den einzigen, in die Jahre gekommenen Trainingssaal zur perfekten Bühne umzufunktionieren. Neun Soli sollten sich dort ausbreiten, von Menschen, die meisten zwischen zwanzig und dreissig, eine fast fünfzig, drei Männer, sechs Frauen, die sich für den Irrsinn einer Profiausbildung in der Provinz entschieden haben.
Schon beim Betreten des nonchalanten Kleinods wurde man Christian Hümpfner gewahr. Ein Mann, der am Boden in Fesseln liegt. In reduzierten, klaren und raffiniert gestalteten Bildern zeigt er einen Mann, der sich seiner Begrenzungen bewusst wird und sich von ihnen befreit. Markant und faszinierend, wie er die Seile, die um seine Glieder geknotet waren, am Ende wie über eine Wäscheleine hängt und sie - sich - betrachtet. Ebenso intensiv beispielsweise das Solo von Stephanie Schmidt. Sie kehrt in „Pure“ dem Publikum den Rücken zu und betrachtet ihr unprätentiös auf die Wand projiziertes Gesicht. Als das Bild verschwindet, dreht sie sich um. Eine junge Frau im fast durchsichtigen Hemd die einen weißen Schleier in den Mund gestopft hat. Später wird sie sich rote Farbe ins Gesicht und auf den Oberkörper schmieren. Es ist nichts neu an diesem jungen Frauensolo und offenbart dennoch die transformierende Kraft des Tanzes: Er bringt ein anderes Wesen zum Vorschein: eine Mischung aus Göttin, Schamanin und noch unerlöstem Vamp; expressiv, ohne Scheu ausdrucksstark wie die Amazonen des German Dance, offenbarend wie der schmerzhaft zerbrechlich wirkenden Tanz von Nayoung Kim in „La Prima Vez“ von Pina Bausch, von dem sich Schmidt augenscheinlich hat inspirieren lassen, nur kämpferischer. Überhaupt gelingt allen in ihren von Eva Eger und Berenika Kmiec gecoachten Stücken, Innen- und Außenwelten zu verbinden, gut getimet zwischen ihnen zu pendeln. Und meistens verhandeln sie auch den daraus entstehenden Grundkonflikt. Wer bin ich in mir und dort? Spannende Alternativen präsentierten schließlich etwa Philipp Treml oder Sofian Husein. Beide kahl rasiert und schlicht in Hose und T-Shirt entwickeln sie jeweils Zustände, Treml darüberhinaus eine Figur. Irgendwann assoziiert man bei ihm den verlorenen Prinzen. Weit und kraftvoll mit berührend durchlässigen Armen bewegt er sich im Halbdunkeln durch Häufchen von Daunenfedern. Im Schattenriss hinter ihm sieht man hin und wieder einen Arm abgebildet, einem Schwanenhals ähnlich. Großes Glück, als man gewahr wird, wie hier einer, den noch keiner kennt, das Schlüsselmotiv der Ballettgeschichte mit dem verdrängten Tier im sinnlichen Menschen kurzschließt und in die Gegenwart entlässt. Ebenso eigen und prägnant Huseins Umsetzung von Vivaldis „Vier Jahreszeiten“. Nur ein wenig verrauscht knackt die Komposition aus den Lautsprechern. In "Slow Motion" setzt sich Husein dann mit dem Rücken zur Wand in Bewegung und durchwandert in Ruhe die Abschnitte im Zeitenlauf. Abstrakter, reduzierter und kürzer wurde Vivaldi wahrscheinlich noch nie vertanzt.
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