Variationsreich

double bill: Zufit Simon & Christoph Winkler im Schwere Reiter München

Die Tanzsaison im Schwere Reiter in München startet mit drei Tanzsolos und zwei starken Frauen.

München, 04/10/2019

Ein Tanz mit prachtvollem Haar. Verführerisch wild, selbstbestimmt und scheinbar unabhängig. An die Wand projizierte Großbuchstaben verraten emotionalen Antrieb und Titel des Stücks: „Persian Hair“. Das 20-minütige Solo ist eine von fünf Studien des aus Torgau stammenden Berliner Choreografen Christoph Winkler über Post-Kolonialismus. Für seine Suche nach Identität und das sich Bewusstmachen kultureller Unterschiede und abweichender Frauenbilder bei uns und im Iran lässt er Raha Nejad antreten. Ein feminines, beharrlich powergeladenes Protagonisten-Kaliber. Letztlich nur durch Begasung mit Trockeneis bewegungsstill zu bekommen. Als nachhallender Eindruck überaus krass.

In der Berliner Urban Dance- und Voguing-Szene ist die dynamische Tänzerin mit persischen Wurzeln bestens bekannt. Winklers Solo hat sie sich amazonenhaft ganz zu Eigen gemacht. Es beginnt statisch, mit seitlich am Kopf erhobenen Armen, die Hände geballt. Während Nejad sich anmutig-kühn das Posing-Vokabular von Bodybuildern einverleibt, lässt sie erst gar keine Zweifel über ihre innere Kraft zu. Fransen an Ärmeln und Stiefeletten unterstreichen den Cowgirl-Look. Doch anstelle von Lassos werden hier lange offene, dann zum Pferdeschwanz gebundene Locken und schließlich noch die Arme in virtuosen Loops durch die Luft geschleudert. Man staunt angesichts der nicht enden wollenden kombinatorischen Variationsvielfalt. Unter metallisch-peitschenden Techno-Beats wird unentwirrbar ein Mix orientalisch-zarter Leichtigkeit (filigrane Handrotationen, flinke Nachstellschritte) und typischer Club Moves abgespult, die aufgrund ihrer massiveren Härte beeindrucken. Vulkanisches Beben unterm Haaransatz. Zieht jemand diese Frau am Schopf über den Boden, dann nur sie selbst!

Auch die Israelin Zufit Simon tanzt ab und an für Winkler. Nun aber spannen zwei ihrer Solos das gemeinsame Projekt „double bill: Zufit Simon & Christoph Winkler“ in einen atmosphärisch feinen Rahmen. Obwohl die Elektronik unangenehm dahindröhnt, zerlegt sie in „Fleischlos“ ihren Körper im räumlich aus Neonröhren konstruierten Winkel systematisch immer wieder. Bis die diversen Versuche, Hände und Füße miteinander zu koordinieren und das überprüfende Abmessen des eigenen Ichs, am Boden liegend enden. Den Abend eröffnet Simon – anfangs selbst unter einer riesigen Luftkapsel begraben – in einer textuntermalten Landschaft voll plexigläserner Blasen. „Schäume“ hatte im Februar Premiere. Ein sensibles Projekt, wie gemacht zum Abtauchen in metaphorisch gedachte Materie. Um den Körper der Umgebung anzupassen, muss Simon sich bloß eine der Schüsseln über den Kopf stülpen. Auch dieser streckenweise in sich ruhende Werkausschnitt hat starke, einprägsame Bilder.
 

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