Lucia Lacarra und Marlon Dino in „Onegin“

Lucia Lacarra und Marlon Dino in „Onegin“

Tänzer gehen...

Wechsel beim Bayerischen Staatsballett nicht nur in der Direktion

Dass ein neuer Intendant seine eigene Crew mitbringt, ist nichts Neues. Eine Abschieds-Pressekonferenz wie von Lucia Lacarra und Marlon Dino ist jedoch eher ungewöhnlich.

München, 06/06/2016

Ging da jetzt ein Aufschrei durch die Münchner Ballettfan-Gemeinde? Die Presseabteilung des Bayerischen Staatsballetts hatte mitgeteilt, dass mit dem Abschied von Ballettchef Ivan Liška zu Saisonende 29 von insgesamt 66 Tänzern das Ensemble verlassen. Gerüchte darüber kursierten ja schon lange vorher. Ob sein Nachfolger, der Russe Igor Zelensky, im einzelnen die Verträge nicht verlängert hat oder – gängiges Prozedere bei Chefwechsel – ungünstige Konditionen einen (un-)freiwilligen Abschied verursachten, bleibt, politisch korrekt, der Öffentlichkeit verborgen. Mitgefühl für die Betroffenen ist sympathisch, eine große Erregung jedoch kaum der Realität angemessen.

Es ist ein ungeschriebenes Gesetz, dass ein neuer Direktor seine eigene Crew mitbringt, nicht nur im Ballett. Die Münchner Intendanten Martin Kušej und Matthias Lilienthal haben ihr Residenztheater respektive die Kammerspiele in Verwaltung und Ensemble grundlegend erneuert. Und kein Aufschrei nirgends. Für Schauspieler ist es selbstverständlich, sich bei Direktionswechsel rechtzeitig nach alternativen Engagements umzusehen. Wer neu in einer künstlerischen Position antritt, möchte, darf, nein muss sein eigenes Profil entwickeln.

Und, ganz ehrlich, wünscht man sich als Zuschauer nicht auch mal ein paar neue Gesichter, neue Solisten? Klassiker wie „Schwanensee“, „Nußknacker“ oder „Giselle“, weil über Jahrzehnte unzählige Male gesehen, sind irgendwann nur noch mit einer neuen überraschenden Besetzung erträglich. Kleine Fluktuationen gab es im Ensemble: bedingt aber lediglich durch Veränderungswunsch der Tänzer oder Karriereende. Bei Liška, nach eigenen Worten „ein Ensemble-Mensch“, musste niemand gehen. De facto herrschte seit Konstanze Vernons Staatsballettgründung 1989 bis heute (!) eine im Ballettbetrieb seltene und, einerseits, durchaus fruchtbare Kontinuität. Denn Liška, nach seinem Münchner Engagement von 1974-1977 zwanzig Jahre Solist in John Neumeiers Hamburg Ballett, war 1998 Vernons Wunschkandidat. Mit den beiden Vernon-Stützen, dem Klassikspezialisten Wolfgang Oberender und der Expertin fürs Moderne Bettina Wagner-Bergelt, führte er, quasi in Erbfolge, die schon etablierte zweigleisige Repertoirepolitik bruchlos weiter. Vergessen hatte man in diesen fast drei Jahrzehnten, dass Vernon, wenn auch gestreckt auf ihre beiden ersten Saisons, das Ensemble um die gleiche Anzahl wie Zelensky verjüngte. Und Stuttgarts berühmter John Cranko entließ 1968 bei seiner zusätzlichen Leitung des Münchner (damals noch) Opernballetts sogar Dreiviertel der Tänzer.

Die Trias Liška-Oberender-Wagner-Bergelt bescherte dem Repertoire – damit den Tänzern und dem Publikum – manch neues spannendes Werk, sei es zeitgenössischer Machart, sei es Neuinszenierung oder Rekonstruktion historischer Klassiker; war sicher Garant für Kontinuität und Stabilität – in die sich jedoch auch eine gewisse Selbstzufriedenheit eingeschlichen hatte. Man fragt sich zum Beispiel, wieso das Staatsballett nicht einen einzigen „danseur noble“ hatte (Oliver Wehe noch zu Vernon-Zeit war die Ausnahme), obwohl der für die Klassiker doch eine Grundbedingung ist. Und „Prinzen“-Darsteller muss man heute wirklich nicht mehr mit der Lupe suchen. In München tanzten die Solisten eben alles: die Prinzen, die dramatischen Liebhaber in den Balletten von John Cranko und John Neumeier und die postmodernen Forsythe- und Siegal-Choreografien. Ob jeweils in Elitequalität, möchte man hier dahin gestellt sein lassen.

Als ehemaliger erster Ballerino des St. Petersburger Mariinsky-Balletts legt Zelensky speziell wert auf geschliffene Technik und charismatische Performance. Eine Handvoll interessanter Neuengagements – bisher noch ohne Namensnennung – sind versprochen. Geplant ist auch ein reger Austausch mit dem von ihm weiterhin geleiteten Moskauer Stanislavsky-Ballett. Ob das funktioniert, wird man sehen. Es setzt ja die geschickte Handhabung einer höchst komplizierten Spielplanung und Besetzung voraus. Bedenken hat man generell bei einem Chef, der seine Energie auf zwei große Ensembles verteilt.

Was die Neuformierung des Staatsballetts betrifft, so hat Zelensky bereits vor zwei Jahren das Ensemble in Augenschein genommen. Seine Frau – ebenfalls Ex-Mariinsky-Tänzerin und hier ab Herbst Ballettmeisterin speziell für die Damen – hat das Training beobachtet. Wodurch anzunehmen ist, dass der künftige Chef seine Absichten früh genug kundgetan hat, um den Tänzern Zeit für eine Neuorientierung zu geben. Einige Mittdreißiger und der heuer 45 gewordene Cyril Pierre (er hat sein Alter selbst im Netz bekannt gegeben) streben eine neue Laufbahn an: zum Teil als Pädagogen, Ballettmeister oder Leiter von privaten Ballettschulen. Jüngere fanden Engagements u. a. in Stuttgart und Tokio oder wollen sich der Familie widmen. Die Solisten Katherina Markowskaja, Zuzana Zahradníková und Léonard Engel, bisher intensiv in Richard Siegals Stücken fürs Staatsballett eingesetzt, haben sich bereits in seiner neu gegründeten, von der Stadt München subventionierten Kompanie „Ballet of Difference“ verpflichtet.

Münchens Primaballerina Lucia Lacarra und Ehemann Marlon Dino, die ursprünglich zumindest noch ihr 15. Jahr im Ensemble bleiben wollten, gingen jetzt mit einer Art Abschieds-Pressekonferenz an die Öffentlichkeit – was eher unüblich ist. Entnommen hat man diesem Gespräch, dass die Kommunikation mit Zelensky schwierig war, er Ihnen zu wenige Auftritte zugestanden habe: offensichtlich wegen der großen Anzahl seiner neuen Solisten, die zum Teil aus seinem parallel weitergeführten Moskauer Stanislavsky-Ballett stammen. Dass durch diese Doppelleitung Zelensky wohl nicht durchgehend für das Münchner Ensemble zur Verfügung stehe, sieht Marlon Dino kritisch - worin man ihm zustimmt. Dino, als gebürtiger Albaner mit autoritären Verhaltensweisen vertraut, mag auch richtig liegen mit seiner Ansicht, dass Zelensky lernen und bereit sein müsse, sich auf mitteleuropäische Verhältnisse einzustellen.

Dazu sollte man dem Neuen aber auch ein Stück Zeit lassen. Möglich, dass die beiden ersten Solisten doch zu ungeduldig waren. Andererseits gesteht vor allem Lacarra – überaus apart anzusehen und sowieso eine der Welt schönsten Tänzerinnen –, dass sie technisch zurückstecken müsse. Ähnlich wie der andere Weltstar Sylvie Guillem nach Klassik-Briokarriere wird Lacarra mit Dino in Russell Maliphants moderner Londoner Kompanie tanzen, auch weiterhin weltweit in Galas; mit jeweils festen Gastverträgen zudem in Victor Ullates Madrider Kompanie – dort begann Lacarras Karriere – und am Theater Dortmund, wo das Paar in Ballettchef Xin Peng Wangs Kreation „Faust II“ schon am 29. Oktober zu sehen ist. So kommen für beide, statt der von Zelensky zugesagten 12, bis Ende des Jahres immerhin 40 Vorstellungen zusammen.

Klar wird wieder einmal – das ist das Positive an dieser ‚Münchner Aufregung’ – , dass Tänzer mit naturgemäß kurzer Laufbahn rechtzeitig an Vorsorge und Versicherung denken müssen. Eine erste Anlaufstelle ist das „Transition Zentrum Deutschland der Stiftung Tanz“, die Tänzern in einer prekären (Übergangs-)Zeit mit Beratung und auch finanzieller Hilfe zur Seite steht. Man sollte auch darüber nachdenken, so die Anregung von Ex-Staatsballett-Mitglied Guan Deng, ob Tänzer nach dreizehn Jahren in einem Ensemble nicht eine Abfindung verdient hätten.

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