Kunst der Verzauberung
Die Jubiläumsausgabe von Think Big!, dem Festival für junges Publikum in München, lädt zum Träumen ein und hält den Spiegel vor
„Unleashed“ - immer diese englische Titel-itis. „Entfesselt“ hätte die selbe Signalwirkung gehabt. Um rausgelassene Agression, um unvermittelt ausbrechende Gewalt geht es in dem neuen Tanzstück von Stephan Herwig. Und bei den im Münchner Schwere Reiter entfesselten Brachial-Aktionen kann man sehr wohl das Brutalitäts-Syndrom unserer Zeit assoziieren, von den Testosteron gesteuerten Messerattacken auf Zufallsopfer bis zu den rauschhaften Kriegszügen islamischer Fundamentalisten.
Herwig, gestandenes Mitglied des städtischen „Tanztendenz“-Kollektivs, hat sich Mühe gegeben, das, körperbedingt, nicht unbegrenzte Aggressionsvokabular zu variieren. Mit zunächst zärtlich wirkenden Griffen um Kopf und Nacken ziehen, reißen und zerren sich die fünf Tänzer gegenseitig in (gemeint) schmerzhaften Verdrehungen zu Boden. Ringen dort in strampelnder Körperverklammerung. Rennen aufeinander zu, den absehbaren gemeinsamen Sturz beabsichtigend. Und Herwig hat dieses Martial-Ballett, Respekt!, in eine Struktur gebracht: es beginnt mit den in Stern-Form am Boden liegenden fünf Akteuren und endet dort mit den Erschöpften als „Gruppenbild mit Wasserflaschen“. Dazwischen schieben sich zwei Pas-de-deux-artige Sequenzen und zwei synchrone Quintette: eines die ganze Tanzfläche heftig bespringend; das andere wie in der Erde wurzelnd, wo wilde Energie sich aus rudernd-schlenkernden Armen befreit. Den Kontrast zwischen angedeuteter Beziehungsnot und dem Gewalttrieb stützt Herwig mit elegisch säuselnder Romantik und perkussiver und metallisch schleifender Elektromusik.
Vom Verstand her beurteilt, ist das Stück ordentlich gemacht. Aber unsere Bauchreaktion ist eher negativ. Das insgesamt roh zubehauene Vokabular erinnert an die Judson-Dance-Postmoderne der 60er Jahre (eine Retrospektive hatten wir gerade im Lenbachhaus-Kunstbau)!. Die Tänzer ähneln sogar denen der Judson-Ära: mit Kopf und Kraft voll dabei, aber gewollt graumausig unauffällig. Und Herwigs Kampfakrobatik – die man zudem in Pina Bauschs Tanztheater subtiler erlebt hat – ist auf Dauer doch sehr monoton, trägt vor allem keine fünfundsechzig Minuten.
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